Geistiges
Ich will noch einmal umkehren und sehen, ob es doch im Stoff der Sprache liegen mag, dass wir instinktiv geneigt sind, sie der unklaren Gruppe der Geisteswissenschaften zuzurechnen. Wir wissen schon, wie wertlos dieser letzte Begriff ist; wir haben uns aber in dieser ganzen Untersuchung daran gewöhnen müssen, die üblichen Worte mit einer ungefähren Bedeutung weiter zu gebrauchen, nachdem wir ihre landläufige Definition für unhaltbar erklärt haben.
Den Stoff der Sprachwissenschaft geben Erscheinungen ab, so recht eigentlich Erscheinungen, die wir dem geistigen Gebiete zuzuweisen pflegen; jede Spracherscheinung ist ein Schall, der in uns näher oder ferner die Erinnerung an Sinneseindrücke erweckt, welche Erinnerung wir die Bedeutung des Schalles nennen. Also wohlgemerkt: wir besitzen in allen Sprachäußerungen etwas, was uns in doppelter Hinsicht etwas Geistiges, das heißt etwas Immaterielles zu sein scheint, den immateriellen Schall, den wir hören, und seine Bedeutung, deren wir uns erinnern. So scheinen wir prächtig auf rein geistigem Boden zu stehen. Eigentlich ist aber das einzige "Immaterielle" daran die Erinnerung. Die Sinneseindrücke, an welche die Bedeutung des Wortschalls erinnert, sind nämlich doch etwas Materielles gewesen, populär ausgedrückt. Wie sich der Sinneseindruck in unserem Gehirn als Gedächtnis bewahrt hat, das wissen wir «nicht; aber wir ahnen von Jahr zu Jahr sicherer, dass auch das Gedächtnis an materielle Veränderungen gebunden ist. Das Geistigste also an der Sprache, die Bedeutung der Wortschälle, ist nur insofern psychologisch, als wir unter Psychologie die uns immer noch unbekannte Physiologie des Gehirns verstehen.
Ich glaube aber wirklich, dass auch ohne diese Bedeutungsseite die Sprache besser den immateriellen Erscheinungen zugewiesen würde, weil ihr Stoff der Schall ist, also eine Bewegungserscheinung der Luft, nach dem Zeugnis unserer Sinnesorgane eine formelle, nicht eine materielle Änderung eines Stoffs. Es ist aber traurig, so viele Jahre nach Locke und Kant noch darauf hinweisen zu müssen, dass auch die von den anderen Sinnesorganen beobachteten Erscheinungen psychologisch ganz sicher, und höchst wahrscheinlich auch physikalisch, Bewegungsveränderungen, formelle Änderungen unveränderlichen Stoffes sind, eines Stoffes, den wir vorläufig, in Ermanglung eines besseren Ausdrucks, seit einiger Zeit wieder die Atome nennen. Wäre also durch irgend welche Umstände das Verständigungsmittel der Menschen eine sichtbare Sprache geworden, so würden wir nicht so sehr geneigt sein, die Sprache zu den immateriellen Dingen zu rechnen; und doch wäre an der Sache nichts geändert.
Ich will natürlich nicht ableugnen, was wirklich ist. Der Schall der Sprache gehört ohne Frage zur Naturwissenschaft. Dieser Schall erweckt aber in uns tausenderlei Gefühle, Stimmungen, Erinnerungen; die heitere und traurige Welt unserer Erfahrung baut sich mit Hilfe dieses Schalls noch einmal vor uns auf. Was da in uns vorgeht, das nennen wir die Tätigkeit unseres Geistes, weil wir die Natur dieses Vorgangs nicht kennen; das Plaudern darüber nennen wir eine Geisteswissenschaft, weil wir die Naturwissenschaft der Erscheinung nicht kennen. So sind sämtliche Erscheinungen der Tonharmonien, soweit wir sie verstehen, unbedingt Gegenstand der Akustik, einer Naturwissenschaft; nur das harmonische Mittönen des feinen Instruments in unserem Ohre, das unser Hören begleitende Gefühl, nennen wir eine Kunst, die Musik, wie wir die Begleitgefühle aller sprachlichen Entwicklung und alles anderen menschlichen Handelns unseren Willen nennen und sie der Tätigkeit des Menschengeistes zurechnen.
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