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Zweck im Verbum

Insbesondere die Handlung, welche Lessing in seiner Abhandlung über die Fabel so prachtvoll definiert hat und welche er sich so einfach durch das Verbum darstellbar denkt, haben wir als etwas kennen gelernt, was durch Worte gar nicht zu beschreiben ist. Wir wissen, dass wir z. B. mit dem Worte "graben" eine Unzahl minimaler Körperbewegungen unter dem menschlichen Gesichtspunkte eines Zwecks zusammenfassen. Was im Gehirn beim Anblick eines Bildes und beim Anhören des entsprechenden Verbums (des Ausdrucksmittels für die Handlung, für das Objekt der Poesie) vorgeht, ist also gar nicht so verschieden. Aus dem Augenblicksbilde z. B. in einem Gemälde von J. F. Millet kommt uns die Erinnerung, dass ein grabender Mensch einmal auch diesen Anblick gewährt; hören wir das Wort "graben", so bezeichnet es allerdings nicht einen einzelnen Augenblick, sondern den ganzen Komplex der zweckmäßigen Bewegungen, aber es gibt doch zur Beschreibung der Tätigkeit nicht mehr, sondern weniger als das Gemälde. Es gibt den unsichtbaren Zweck des Bewegungskomplexes als Mittelpunkt der Erinnerung an die unzähligen Teilbewegungen. Und wollte der sprechende Mensch, der Dichter nun mehr tun als der Maler und, wie die Theorie Lessings es verlangen würde, an Stelle des unsichtbaren Zweckbegriffs die Teilhandlungen aufzählen und so die Gesamthandlung zu beschreiben suchen, so würde sich bald herausstellen, dass Handlungen durch die Sprache nicht zu beschreiben sind, dass die Vorstellung von einer Handlung durch eine solche genaue Beschreibung nur immer undeutlicher würde. Oder vielmehr: Es ist die komplizierte Handlung (z. B. das Satteln oder, um bei Homer zu bleiben, das Anschirren der Pferde) dem hörenden Menschen entweder geläufig, oder sie ist ihm fremd. Ist sie ihm fremd, so wird die Beschreibung, die Aufzählung der Teilhandlungen ihm von Seiten des sprechenden Menschen nicht eigentlich eine sprachliche Mitteilung, sondern eine Neuigkeit sein; er wird wünschen den ganzen Vorgang lieber praktisch vor sich zu sehen, weil er der Beschreibung kaum zu folgen vermag. Ist dem hörenden Menschen der Handlungskomplex jedoch geläufig, so wird die Beschreibung, die Aufzählung der Teilhandlungen, ihm bis zur Lächerlichkeit langweilig erscheinen. Man stelle sich einmal vor, ein epischer Dichter wäre auf den verrückten Einfall gekommen, das Verbum "er ging", weil es doch nur den Zweckmittelpunkt angibt und nur die Illusion eines wirklichen Bildes erzeugt, durch eine Beschreibung des Gehens zu ersetzen, wie sie etwa durch die Brüder Weber anatomische, durch Anschütz photographische Kenntnis geworden ist. Der Dichter könnte nun eine Reihe von Seiten an die Stelle des einfachen "er ging" setzen; jede Einzelbewegung des Apparates von Knochen, Sehnen, Nerven und Muskeln könnte er, mit oder ohne Mathematik, aufeinander folgen lassen. Unsere Wissenschaftler würden das eine Erklärung des Gehens nennen. In Wahrheit aber wäre es natürlich keine Erklärung, sondern nur eine Beschreibung, eine Beschreibung aber auch wieder nur für die Vorstellung des Anatomen oder Physiologen, der eine "vorläufige Bekanntschaft" mit den Teilhandlungen besäße; für den unvorbereiteten Zuhörer wäre es das Gegenteil von einer Beschreibung. Er würde nach dem Lesen der ganzen Aufzählung von Teilhandlungen viel eher glauben, die Person hätte geturnt, als sie wäre gegangen. Denn nicht nur die Poesie als die Wortkunst, sondern die Sprache überhaupt setzt, wie wir wissen, den Gegenstand der Mitteilung als bekannt voraus — um diesen Gedanken endlich einmal so scharf wie möglich auszudrücken. Gerade das Verbum als das Ausdrucksmittel der Handlung ist für diese Erkenntnis sehr wichtig. Die Adjektive grün, süß usw. lassen freilich keinen Zweifel darüber, dass keine Beschreibung eine Vorstellung des Grünen, Süßen usw. demjenigen liefern könnte, dessen Gesichtsnerven, Geschmacksnerven usw. nicht funktionieren. Das scheint uns aber gar nicht mehr bemerkenswert, weil es vor aller Psychologie klar sein mußte, weil — wie ich hinzufüge — die unmittelbaren Sinneseindrücke immer adjektivisch sind und darum niemals durch Beschreibungen ersetzt werden können. Bei den Substantiven ist ein Irrtum schon eher möglich; man glaubte, die Vorstellung von einem Elefanten in der Schule durch adjektivische Beschreibungen erzeugen zu können, bis die neuere Pädagogik in allen solchen Fällen den Anschauungsunterricht für notwendig erklärte. Der Anschauungsunterricht versucht durch hübsch kolorierte Bilder auch die Tätigkeit der Handwerker den Kindern beizubringen. Ein fruchtloses Bemühen! Niemals wird sich das Kind von der Tätigkeit eines Handwerkers eine Vorstellung machen können, wenn es seine Werkstatt nicht besucht hat. Durch bloße Beschreibung der Tätigkeit kann man weder einen Schuhmacher noch einen Schwimmer ausbilden; man kann aber auch dem Nicht-Schuhmacher und Nicht-Schwimmer von der Tätigkeit durch bloße Beschreibung keine Vorstellung geben. Handlungen können nicht der eigentliche Gegenstand der Poesie sein, der Wortkunst, weil Tätigkeiten sich durch Worte am allerschlechtesten beschreiben lassen. Poesie kann schon aus diesem Grunde immer nur Seelenstimmungen darstellen, welche der Dichter (untätig, handelnd oder anderen handelnden Personen gegenüber — lyrisch, dramatisch oder episch) empfindet und die er beim Leser wieder erzeugen will.