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Transitivum und Willensfreiheit

Wie falsch der Gebrauch transitiver oder aktiver Verben für das ist, was wir ebenso falsch die Tätigkeit unserer Sinnesorgane nennen, das erhellt auch daraus, dass wir nur je ein Wort für sehen, hören, riechen usw. haben und dass wir die Unterschiede durch hundert verschiedene Worte für die verschiedenen Wirkungen in die Dinge zurückverlegen. Bei wirklich transitiven Verben wie essen, trinken liegt die Handlung in unserem Willen oder scheint wenigstens darin zu liegen. Bei den Wahrnehmungen aber, das heißt bei den Wirkungen der Außenwelt auf uns ist allmählich auch der Schein der Freiheit verloren gegangen. Und so liegt zwischen der transitiven Sprache unserer Sinnesbezeichnungen und unserem Wissen schließlich dieselbe Diskrepanz wie zwischen der wissenschaftlichen Überzeugung von der Unfreiheit des Willens und unserer Unfähigkeit, ohne den Schein der Freiheit zu handeln. Wie jede Fingerbewegung des Menschen unter dem alten Glauben an die Freiheit geschieht, so erhält unsere Sprache auch den Schein der Freiheit, der Aktion bei allem Beden von Sinneseindrücken.

Was die Vorstellung von diesen Dingen so erschwert, das ist der Umstand, dass das Sehen, Schmecken usw. (sprachwidrig ausgedrückt: das Begrüntwerden, das Beblaut-, Besüßt-, Bebittertwerden) nicht in den anerkanntermaßen passiven Sinnesorganen, sondern irgendwo hinter ihnen im Zentralnervensystem vor sich geht. Merkwürdigerweise geht in derselben Dunkelkammer auch dasjenige vor sich, was unfrei mit dem Schein der Freiheit die motorischen Nerven arbeiten läßt. Und unsere Sprache ist ebenso unfähig, die Passivität unserer Sinne auszudrücken, wie die Passivität unserer Willensakte. Selbst der theoretischen Überzeugung dieser beiden Passivitäten kann sie sich nur im Dunkeln tastend nähern.

Sigwart, welcher (II. 166) den Gegensatz zwischen den aktiven Verben unserer Wahrnehmungsbezeichnungen und der wissenschaftlichen Deutung wohl bemerkt hat, ist doch so sehr ein Sklave der Sprache, dass er auf Grund dieses sprachlichen Scheins sogar von einer Willensfreiheit unserer Sinne oder ihres Zentrums, gleichzeitig jedoch von Imperativen des Sehens und Hörens spricht, kategorischen Imperativen wahrscheinlich. Übrigens weist er auf die Aufmerksamkeit als eine Bedingung des deutlichen Sehens usw. hin, als ob die Aufmerksamkeit von einem freien Willen abhinge.

So berührt sich die Wahrnehmungstheorie mit der Ethik durch die Sprache; diese hat unterirdische Fehlerquellen und Fehlerströmungen, die dahin und dorthin führen. Man hat oft im Scherze von einer katholischen Mathematik usw. gesprochen. Der Begriff ist aber nicht nur möglich, sondern eine Tatsache. Auch die Erkenntnistheorie war im Mittelalter katholisch. Drei Glaubenssätze standen als Ausgangspunkte voran, um hintennach als Ergebnisse logisch wieder herauszukommen: Unsterblichkeit der Seele, Gott und Willensfreiheit. Auf das erste Ergebnis fängt man zu verzichten an, weil die Sprache in diesem Begriff ad absurdum geführt worden ist. Den zweiten Glaubenssatz versuchen (außer uns) alle nicht materialistischen Forscher zu konservieren, indem sie ihn verschämt langsam seines ganzen Glaubensinhalts berauben. Der dritte und eigentlich allein moralische Begriff, der der Willensfreiheit, treibt sich aber noch ziemlich unverändert, als ein nächtlicher Schmuggler, auf den Grenzgebieten der Physiologie umher und macht die jüngste und stolzeste der naturwissenschaftlichen Disziplinen gegen ihren Willen zu einer moralisch-physikalischen Physiologie.

Die Unbestimmtheit des transitiven Verbs "wollen" mag viel dazu beigetragen haben, die Lehre von der Willensfreiheit zu verwirren. Was sich allein auf ein Objekt bezieht, die transitive Tätigkeit der unbekannten Seele, das Begehren, müßte sprachlich genau vom Wollen unterschieden werden. Den letzten Zweck, einen Apfel oder ein Weib begehre ich, das heißt wünsche ich mein zu machen. Mein Gehirn erfindet zur Erreichung dieses Zweckes eine schlaue Maschinerie, zu der sich Knochen, Muskeln, Sehnen, vielleicht auch projizierte Organe, wie Leitern, Scheren und dergleichen verbinden müssen. Auslösend steht zu Beginn dieser Maschinerie irgendwo im Nervenbereich das Wollen, welches gar kein Transitivum ist, sondern ein Zustand wie sehen und hören. Man könnte auch sagen, dass die transitiven Verben dieser Art den Schein der Aktion dadurch erhalten, dass ihnen das Zentralnervensystem dient, die Küche des Bewußtseins oder Selbstbewußtseins. Die Wirkungen der sympathischen Nerven erzeugen diesen Schein, dieses Bewußtsein der Aktion nicht. Darum sind schwitzen, atmen, frieren intransitive Verben geworden; sehen, hören usw. transitive. Der Mensch ist da wie ein Fürst gewesen, dem das große Netz seiner engverknüpften Diener das unzerstörbare Selbstbewußtsein der eigenen Aktion gegeben hat, während die verborgenen Freunde, die sein Leben schützen, ihm sagen könnten, wie auch er nichts von sich weiß, wie auch er passiv, ohne Freiheit, gebunden wie die sklavische Pflanze dahin lebt.

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