Präsens und Gegenwart
Sigwart (I. 90) macht darauf aufmerksam, dass das Präsens etwas Verschiedenes bedeute, je nachdem es dasselbe Prädikat von einem Begriff oder von einem Ding aussage. Ganz richtig. "Die Sterne leuchten" (das heißt man erkennt die Sterne gerade daran, dass sie leuchtende Punkte sind) bedeutet etwas ganz Anderes als "die Sterne leuchten" (das heißt jetzt, wie ich eben sehe, leuchten sie, der Himmel ist also nicht bewölkt). Das Erste kann man auch bei Tage sagen, das Zweite nicht. Das Erste ist eine völlig leere Tautologie, weil wir das Leuchten mitvorstellen, wenn wir "Sterne" hören; das Zweite ist eine Tautologie anderer Art, weil wir auf die zweifelnde Frage, ob der Himmel etwa bewölkt sei, bloß "Sterne" zu antworten brauchten oder "Es sind Sterne am Himmel". Das Leuchten gehört dazu oder ist vielmehr die Voraussetzung unseres Sehens.
Das Präsens bezeichnet also (wie schon S. 44 erwähnt) das eine Mal die Gegenwart, also eigentlich den flüchtigen Augenblick, das andere Mal die ewige Dauer in Vergangenheit und Zukunft. Oder sollte etwa die Sprache so witzig gewesen sein, da und dort mit dem Präsens die Zeitlosigkeit bezeichnen zu wollen? Schwerlich. Der Witz der Sprache ist niemals Wortwitz; so leer wie oft die wortwitzigen Menschen ist sie denn doch nicht.
Die Eigentümlichkeit des Verbums, einerseits immer das Zeitverhältnis anzugeben, anderseits nicht die Gegenwart selbst, sondern stets nur eine Beziehung zur Gegenwart, entspricht den subtilsten Ergebnissen der Erkenntnistheorie. Jeder Satz muß eine zeitliche Bestimmung in sich tragen, weil wir die Welt nicht anders als auf dem Kanevas der Zeit (und des Raums) zu erkennen vermögen. Aber wir kennen keine Gegenwart im buchstäblichen Sinne, weil die Gegenwart immer nur der mathematische Punkt zwischen Vergangenheit und Zukunft ist, niemals ein Besitz, sondern im Augenblicke des Erfassens auch schon ein verlorener Besitz. Psychophysische Experimente haben zur Genüge nachgewiesen, dass die einfachste Empfindung Zeit braucht, um uns zum Bewußtsein zu kommen. Wie wir nach den Lehren der gegenwärtigen Optik das Licht der Fixsterne sehen, das vor Jahren den Weg zu uns angetreten hat, so fühlen wir einen Nadelstich als gegenwärtig erst, wenn er der Vergangenheit angehört. Die Gegenwart ist also nur in unserem Gehirn oder unserem Bewußtsein, nicht in unserer Wirklichkeit. Pedantisch müßten wir sagen "es blitzte" und nicht "es blitzt", so wie die Römer, indem sie sich in den Geist des Adressaten hineindachten, die Ereignisse, die sie brieflich meldeten, zurückdatierten.
Für die Einsicht in die Mängel der Sprache ist es besonders lehrreich, dass sie auch auf ihrem eigensten Gebiete irre führt. Die Grammatik ist nichts als der Sprachgebrauch, der auf abstrakte Regeln gebracht worden ist; und nicht einmal für die Regeln von der Sprache reicht die Sprache aus. Wir haben eben erfahren, dass es eine eigentliche Gegenwart nicht gibt; wir müssen annehmen, dass das undifferenzierte Verbum, das uns heute die sogenannte Gegenwart bezeichnet, zu dieser Bedeutung erst auf einer höheren Entwickelung des menschlichen Geistes gelangt ist. Dagegen haben wir mehr als einmal den Satz wiederholt, dass die Tiere wenig oder gar nichts von Vergangenheit und Zukunft wissen und ganz in die Gegenwart gebannt sind. Es ist offenbar, dass wir da und dort den Gegenwartsbegriff in einem verschiedenen, ja in einem entgegengesetzten Sinne gebrauchen. Denn sonst müßte ja das Tier der Wirklichkeitswelt mit einer besseren Orientierung gegenüberstehen als der Mensch. Wir können den Unterschied im Gebrauche des Gegenwartsbegriffs jedoch nicht deutlich fassen, weil uns die Worte dafür fehlen. Die Sache liegt ungefähr so. Die Gegenwart, in welche die Tiere gebannt sind, ist die Wirklichkeit, welche immer gegenwärtig ist. So müssen auch die Pflanzen die Wirklichkeit als gegenwärtig empfinden. Die andere Gegenwart, die grammatikalische oder logische Gegenwart, als der mathematische Treffpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft, ist nicht wirklich, ist nur in unserem Bewußtsein, ist nur in unserer Sprache. In der Wirklichkeitsgegenwart der Tiere und Pflanzen erzeugt der Vergangenheitsmoment immer den Zukunftsmoment; diese Gegenwart ist fließend. In der grammatikalischen oder logischen Gegenwart ist der Versuch gemacht, den Fluß der Zeit aufzuhalten, die Hypothese eines starren Augenblicks der Unveränderlichkeit aufzustellen. Ob der Raum der Wirklichkeitswelt, zeitlich immer Gegenwart, zum Material der Sinne gehört, das wissen wir nicht; wir wissen nur, dass die allezeit materialistische Sprache den Raum als in der Gegenwart starr auffassen muß. Diese Vorstellung von einer in der Welt nicht existierenden, für unsere Begriffswelt notwendigen starren Unveränderlichkeit ist das Wesentliche an der grammatikalischen Gegenwart; sie kann daneben einen möglichst mathematischen Moment ausdrücken, wie wenn der Experimentator im psychophysischen Laboratorium sprachlich oder durch ein anderes Zeichen mitteilt, er fühle jetzt den elektrischen Schlag, sie kann etwas wie zeitlose Dauer bezeichnen, wie in unzähligen Begriffsdefinitionen: "Die Erde ist ein Planet". Dazwischen wird jede mögliche Zeitdauer, wenn man nur die in ihr sich verändernde Wirklichkeit als eine relativ unveränderte Einheit auffaßt, durch die Gegenwart bezeichnet werden: Es ist zehn Uhr, es ist Tag, es ist der dritte Mai, es ist Mai, es ist Frühling, es ist das Jahr 1899 usw.
Es gibt eine Wortgruppe, an deren Vorstellungen die dauernde sowohl als die augenblickliche Gegenwart besser geknüpft ist als an das Zeitwort, eine Wortgruppe, an die eigentlich allein die Gegenwart geknüpft werden sollte: die Dingwörter, die Substantive. Zeit ist überall, Raum ist immer. Wie Schuß und Kette bilden Raum und Zeit das Gewebe der Wirklichkeit. Der Raum an den Dingen ist immer, ist darum gegenwärtig, gegenständlich, gegenständig, dem Ich gegenüber. Und wenn unsere Grammatik nicht in Alexandria entstanden wäre, zu philologischen Schulzwecken, an der Leiche oder doch am Krankenbett einer schriftlichen Sprache, so hätten den Verben, die wir jetzt Zeitwörter nennen, die Substantive oder Dingbegriffe als Raumwörter gegenüber stehen müssen. Präsens und Nominativ sind spät hinzugekommen. Viel einseitiger aber als die Verbalformen Zeitverhältnisse ausdrücken, drücken die Kasus des Substantivs Raumverhältnisse aus. Man kann sagen: alle ursprünglichen, konkreten dinglichen Substantive sind Raumwörter.