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Seelenvermögen

Der Sprachkritiker kann nicht so leicht in die Versuchung kommen, die Abstraktionen von sogenannten Seelentätigkeiten für persönliche Statthalter besonderer Provinzen zu halten. Uns ist es geläufig, daß wir durch unsere Sinne nur Eigenschaften der Dinge erfahren, und daß darum die allerkonkretesten Begriffe, ja selbst Individualbegriffe nur abstrakte Vorstellungen sind. Wir brauchen uns also auf die Kritik von Galls dreißig Seelenvermögen oder Gehiniorganen gar nicht einzulassen; und wir sind von vornherein geneigt, auch diejenigen Gruppen von Seelenerscheinungen mißtrauisch zu betrachten, für welche die Sprache heute noch geläufige Ausdrücke wie Fühlen, Wahrnehmen, Vorstellen, Erinnern, Schließen, Wollen u. s. w. hat. Grundsätzlich stehen die neueren Forscher alle auf diesem Standpunkt, aber kein einziger von ihnen war bisher im Stande, die Lenkstange der Sprache loszulassen. Selbst die konsequentesten Denker, welche z. B. zugestehen, vom "Wollen"' des Gehirns nichts zu wissen und nur das Ergebnis des Wollens, nämlich die äußere Bewegung zu kennen, definieren den Gehirnvorgang als etwas, was die Empfindung in Bewegung umsetzt. Und doch ist das Abstraktum "Empfindung" wieder so ein personifiziertes Seelenvermögen.

Wir stehen mit dem Worte "Empfindung" aber schon auf dem ersten der beiden Wege, von denen oben die Rede war. Der zweite, den ich zuerst behandeln mußte, setzte den Monarchen Seele ab und lehrte — grob oder fein — die Existenz von großen Statthaltereien, Unterkönigen, Seelenprovinzen. Der erste Weg sieht eigentlich nur vorläufig von einer Seele ab, um einst, nach einem analytischen Umwege über die psychischen Elemente, synthetisch zur alten Seele zurückzugelangen. Waren die Zentren der weiten Seelenvermögen (auch das berühmte Sprachzentrum) psychologisch unhaltbar wegen ihrer relativ unendlichen Größe, so sind die Elemente (Empfindungen und Wollungen) doch wieder nicht zu dulden in einer rein psychologischen Terminologie. Es sind wieder Abstraktionen, nur daß sie dem unendlich Kleinen zustreben. Und sie sind viel gefährlicher, irreführender als verwandte Abstraktionen der Mechanik. Deren Atombegriffe können qualitätslos sein, lassen sich zur Not als bewegte Materie oder Energie vorstellen. Empfindungen und Wollungen aber sind ihrem Wesen nach kompliziert; sie sind mit Wahrnehmung und Gefühl verbunden oder sie sind nicht Empfindungen, Wollungen. Es ist kein Zufall, daß "Empfindung" mit aisthêsis, pathos, passio, Sensation (französisch und englisch), feeling übersetzt oder ausgedrückt worden ist. "Erlebnis" wäre ein gutes deutsches Wort dafür, wenn es nicht schon wieder durch Schulmißbrauch nichtssagend geworden wäre.