Entwicklung der Grundbegriffe
Die sogenannte Psychologie oder Seelenlehre ist so mit ihren Grundbegriffen schlimmer daran, als jede andere Wissenschaft. Die Erscheinungen, mit denen es alle anderen (ob Psychologie zu den Naturwissenschaften gehöre oder nicht, hängt ja nur von der Verwendung des Begriffs "Natur" ab) Naturwissenschaften zu tun haben, sind untereinander vergleichbar. Sind direkt oder metaphorisch als Bewegungen in Zeit und Raum, sind auch in der Biologie noch bequem als Ursache und Wirkung zu begreifen. Was man so begreifen nennt. Empfindungsakte und Willensakte aber sind unvergleichbar. Unvergleichbar unter einander; aber unvergleichbar auch beide mit den als Bewegungen aufgefaßten übrigen Zusammenhängen. Und die materialistische Menschensprache ist der natürliche Weg zu den Naturwissenschaften, wird zum Holzweg vor der Psychologie. Wenn andere Wissenschaften auch nichts weiter bieten wollen als eine bequeme sprachliche, das heißt logische Anordnung einander ähnlicher Beobachtungen, so liegt allen eine gewissermaßen vorwissenschaftliche Tätigkeit unserer Seele zu Grunde. Lange vor der Astronomie empfand die menschliche Seele Sonne, Mond und Sterne als etwas Zusammengehöriges und wollte nach ihrer Bewegung die Zeit messen; die ganze Geschichte der Astronomie ist nichts als eine immer genauere Bestimmung dieses Empfindens und dieses Willens. Lange vor der wissenschaftlichen Physik hatte die menschliche Seele die Grundbegriffe bezeichnet und die Fragen gestellt, die heute noch nicht beantwortet sind. Was von den Menschen empfunden wurde, das nannten sie Stoff und entdeckten so immer neue Stoffe, wie ihre Empfindungen reicher wurden; in die Stoffe träumten sie ihrem eigenen Bewußtsein entsprechend eine Art Willen hinein und nannten ihn Kraft. Und die ganze Geschichte der Physik ist nichts als eine genauere Bestimmung dieser Begriffe. Mit einem Worte: alle realen Wissenschaften benutzen die Sprache als Werkzeug ihrer Ordnung und fragen nicht erst nach der Herkunft und Güte dieses Werkzeugs; sie gehen von der vorwissenschaftlichen Sprache aus, als dem festen Punkt, so wie die alte Astronomie irrtümlich von der unbeweglichen Erde ausging.
Auch die Psychologie oder Seelenlehre muß die Sprache als Werkzeug benutzen. Da sie aber gleichzeitig als ihren Gegenstand diejenigen Begriffe zu prüfen hat, auf denen die Sprachschöpfung beruht, da die Psychologie (wenn man sie nicht auf die kleinen Hilfsversuche der Psychophysik beschränken will) wesentlich die Kunde vom menschlichen Innenleben, also vorzüglich vom Denken oder Sprechen ist, — so hängt sie in der Luft, wie die Erde seit Kopernikus. Nur daß wir in der Psychologie heute noch keine Gesetze kennen, die die Antipoden (Empfindung und Wille) binden und darum über das Gefühl der Verwunderung noch nicht herausgekommen sind. Wir finden in der Sprache Gattungsbegriffe vor, wie Empfindung und darunter Gesicht, Gehör u. s. w., wie Gedächtnis, wie Wollen und darunter Lust, Schmerz u. s. w., und weil wir die Sprache beim Denken nicht los werden können, weil wir die alten Schachteln für ehrwürdiger haltet, als ihren Inhalt, darum sind wir geneigt, alle diese Seelenkräfte zu mythologischen Ursachen unserer Seelenzustände zu machen. Es ist, als ob wir das Flußbett, das der Muß sich doch erst gegraben hat, die Ursache des Flusses nennen wollten.
Die neueren Psychologen, wie Wundt, geben das zwar ungefähr zu; aber sie arbeiten unter Vorbehalt mit den mythologischen Begriffen so lange weiter, bis sie und die Leser den Vorbehalt vergessen haben. Sie wissen wohl, daß der Seelenbegriff nur ein X ist, die Unbekannte, von der sie innere Beobachtungen aussagen. Aber sie befreien sich nicht hinlänglich von der alten Sprache, um deren persönlichen Seelenbegriff fallen zu lassen und zu sagen: "es empfindet, es denkt, es will," wie sie doch längst anstatt "Zeus donnert" sagen gelernt haben "es donnert".