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Lokalisation der Seelenvermögen

Diese Lehre trat eines Tages ganz natürlich hervor, als die Wissenschaft kritisch genug geworden war, um nicht mehr metaphysische Psychologie treiben zu wollen. Von der Seele selbst wußte man eingestandenermaßen gar nichts; man glaubte aber einiges von dem Leben der Seele zu wissen. Da man nun immer deutlicher wahrnahm, daß das Leben der Seele irgendwie an die Vorgänge im Gehirn geknüpft ist, da man die einzelnen Gruppen der Erscheinungen als besondere Seelentätigkeiten, durch alte Worte zusammengefaßt, vorfand, so schien es am bequemsten, für diese Gruppen von Erscheinungen besondere Gehirnorgane anzunehmen. Heute noch ist das ernsthafteste Geschäft der bekanntesten Physiologen darauf gerichtet, solche Lokalisationen im Gehirn aufzufinden. Wenn die Herren nur immer wüßten, was da lokalisiert werden soll. Trotz einigen glücklichen Entdeckungen (namentlich auf dem Gebiete der Physiologie der Sinne und der Sprache) habe ich von den Bemühungen dieser Forscher etwa folgendes Bild: Eine Gesellschaft von Australnegern ist ohne jede Kenntnis der wirklichen Sachlage in Berlin zusammengekommen, um herauszukriegen, wie die Berliner von Telephon zu Telephon miteinander sprechen können. Die Australneger lassen es an Fleiß nicht fehlen. Sie decken alles auf, was nur irgend wie eine Bahn aussieht, was irgend Verbindungen herstellt. Sie geben in einer sauberen Zeichnung ein Bild dieser Bahnen und Verbindungen, und dieses Bild stellt z. B. alle Straßenzüge und Dachrinnen, alle Pferdebahngeleise, alle Tunnels und Viadukte der Eisenbahnen, alle elektrischen Kraftkabel, alle Telegraphen- und Telephondrähte, alle Kanalisations- und Wasserröhren, alle Rohrpostleitungen und Gasröhren dar. Und nun zerbrechen sich die braven Australneger ihre Köpfe darüber: erstens welche Art von Leitung das Sprechen ermögliche (man bedenke nur, daß alle unsere Telephonleitungen der Blitzgefahr wegen an das Kanalisationssystem angeschlossen sind, diese wieder an das Wasserversorgungssystem), zweitens darüber, an welchen Stellen der Stadt wohl die Zentrale lokalisiert sein möge. Apriorische Gründe mögen sie dazu führen, die Zentralstation z. B. nach dem königlichen Schloß, nach dem Rathaus, nach der Universität, nach der psychiatrischen Klinik oder nach dem großen Polizeigebäude zu verlegen. Auch bei den neuesten Forschern findet man noch ähnliche Gründe für die Lokalisation oberster Seelenvermögen nach dem vorderen oder hinteren Gehirnlappen.

Man streitet nicht mehr über den Sitz der Seele, man streitet nur noch über den Sitz der einzelnen Seelendepartements, die man freilich vernünftiger als zur Zeit der ersten Phrenologie bald nach den einzelnen Sinnesenergien, bald nach den Kategorien: Wahrnehmen, Vorstellen und Denken einteilt. Ob die Forschungen der Tierphysiologie und der Psychiatrie über die Lokalisation der Sinne für die Psychologie jemals einen Nutzen ergeben werde, ist recht ungewiß. Über die englischen Tierversuche, die im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts im Dienste der Phrenologie verübt wurden, schrieb damals der gute alte Krug: "Das ist nichts als barbarische Tierquälerei, unter dem Deckmantel der Wissenschaft ausgeübt." Die peinliche Frage an die Natur des Tierorganismus wird heute (so kommt es uns heute vor) nicht mehr so töricht gestellt; der Inquisitor hat sich etwas besser vorbereitet. Und doch müssen die Untersuchungen über die Zentren der Wahrnehmungen, der Vorstellungen und des Denkens wohl gewiß unfruchtbar bleiben, solange das alte Spiel fortgetrieben wird, daß die physiologischen Disziplinen Fragen zu beantworten suchen, die ihnen von einer unklaren Popularpsychologie gestellt werden. Man weiß nicht, was Wahrnehmen, was Vorstellen, was Denken eigentlich sei, und forscht dennoch nach der Residenz der Wesen, welche diesen Begriffen entsprechen. So haben die mittelalterlichen Theologen über die Residenz der Engel spekuliert, so hat Gall in den Höckern der Schädeldecke nach den Wohnstätten der Seelenvermögen gestöbert.

Man mache sich den Vorgang nur einmal an der scheinbar bekanntesten Erscheinung klar. Man kann überall über die Sehwahrnehmungen lesen, daß es ein Netzhautbild gibt, welches nach der Sehsphäre irgendwo im Hinterhauptlappen Projiziert wird. (Eigentlich sollte es rejiziert heißen, da der Ausdruck "projizieren" schon für das Hinausversetzen des Bildes in die Wirklichkeitswelt in Anspruch genommen worden ist.) Die Psychologen fragen nun weiter, ob die Vorstellung oder die Erinnerung an denselben Ganglien haftet wie die Gesichtsempfindung selbst.

In dieser ganzen Vorstellungsmasse wird allgemein übersehen (was doch gegenwärtig Gemeingut der Naturwissenschaften sein sollte), daß es irgend eine Wahrnehmung ohne Verstandestätigkeit, d. h. ohne Gedächtnis gar nicht geben kann. Es gibt für die Sehwahrnehmung überhaupt kein Netzhautbild. Es gibt hinter dem Auge kein anderes Auge, welches das Netzhautbild betrachten könnte. Darauf hat schon R. Wähle (Das Ganze der Philosophie, 266) aufmerksam gemacht. Ein Netzhautbild gibt es, so möchte ich sagen, nur von vorn, nicht von hinten, nicht für den Sehapparat. Ich kann das Netzhautbild unter Umständen auf der Netzhaut eines anderen Menschen oder eines Tiers sehen, mein eigenes Netzhautbild kann ich niemals sehen, wenigstens nicht so sehen, wie die Psychologie das annimmt. Was man noch Netzhautbild nennt, das ist doch offenbar noch etwas Physikalisches, wie das Bild in jeder anderen Camera obscura. das ist noch nichts Physiologisches, geschweige denn Psychologisches. Es ist ein Bild vor der Netzhaut oder auf der Netzhaut, wenn man will, aber nicht ein Bild in der Netzhaut. In dem Augenblicke, wo die Lichter der Außenwelt auf die feinen Organe der Netzhaut selbst reagieren, verwandelt sich das Bild, um das Sehen einzuleiten, in photochemische Bewegungen. Und es scheint mir doch über jeden Zweifel erhaben, daß bei der Deutung dieser Bewegungen ererbte und erworbene Erinnerungen der Gehirnganglien sofort tätig sein müssen. Ohne Erinnerungen könnten wir weder die Umrißzeichnung einer Rose, noch das farbige Bild einer Rose, noch eine wirkliche Rose als Rose wahrnehmen.