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Anfang Oktober 1918

Weltgericht

Der bis zum letzten Hauch von Mann und Roß beschworene Glaube, daß die Welt Gott behüte am deutschen Wesen genesen werde, ist begraben. Die Hoffnung, daß sie vom deutschen Wesen genesen werde, lebt auf. Und gottlob auch die Hoffnung, daß es von sich selbst genesen werde, zurückfinden von dem seinem Wert und seiner Sprache ungemäßen Wahn zu sich selbst und seinen guten Geistern, vom Export zu dem Platz an der Sonne seiner Naturgaben. Ehre einem verunglückten Volk, das sich bis zur Erkenntnis aufgeopfert hat — Schande seinen Verleitern, mag nun Tücke oder Dummheit das größte aller weltgeschichtlichen Verbrechen begangen, das größte aller weltgeschichtlichen Opfer bewirkt haben! Das Erlebnis aber, daß eine Anschauung, zu der man sich als einer von den wenigen bekannt hat, von den vielen geteilt wird und fast gefahrlos geworden ist, und daß es nicht mehr den Kopf kostet, ihn behalten zu wollen; dieses überraschende Abenteuer eines völligen Kurssturzes der Phrase, des Eintretens in das letzte, bitterste und doch beglückende Stadium der Nibelungenreue; diese rapide Verwandlung des Kühnsten in das Selbstverständliche — enthebt mich nicht der Pflicht, es zu bekennen. Man bleibt doch immer der, der schon bei einem Durchbruch von Gorlice und noch früher, ja am ersten Tag dieses Spießrutenlaufs durch das Spalier der mechanisierten Phantasiearmut, an all diesen kriegverlängernden Siegen vorbei, entlang dieser Tobsucht einer Quantität, die nicht den Mut hatte, sich selbst zu berechnen — geahnt, nein gewußt hat, daß mit einer von keinem Shakespeare zu erreichenden tragischen Folgerichtigkeit die Befreiung aus dem Zwang des Idols erfolgen und daß eines Tages, leider noch vor dem leiblichen Jammer, die größere geistige Not beendet sein werde, die da geboten hat, aus der Verächtlichkeit eine Tugend, aus der Verhaßtheit einen Erfolg, aus der Nichtswürdigkeit eine Ehre zu machen. Wollte man in den Gespensterreichen dieser Lebensmittelmächte — gespensterhaft deshalb, weil hier Börseaner die Sprache der Grüfte redeten und weil darin Macht war, Grüfte zu füllen, die Macht von Technik und Romantik in Einem, die Macht der sich automatisch entzündenden Phrase — wollte man heute hier eine Abstimmung veranstalten, welcher Mitteleuropäer wohl am weitesten von der Möglichkeit entfernt war, einen Wehrmann zu benageln oder gar einem eisernen Hindenburg etwas ins Auge zu stoßen oder dem Geschmack jener Tage sonst was zuliebe zu tun, wo Fibel und Chemie, Ornamentik und Organisation, Schwachsinn und Bestialität Schulter an Schulter ihre unnennbaren Offensiven gegen die Menschenwürde unternahmen — wohl wäre ich einer unter den wenigen, die in die engere Wahl kämen und denen nachgesagt werden müßte, daß sie sich weigernd und wehrend der heiligen Pflicht, diese unheilige Zeit zu vertreiben, entsprochen haben. Man wird mir, wenn man mir in diesen zweitausend Seiten der Kriegsfackel — einem Bruchteil von dem, was technische und staatliche Hindernisse mir begrenzt haben — keine positivere Leistung zuerkennt, immerhin das Zeugnis ausstellen, daß die schmutzige Zumutung der Macht an den Geist: Lüge für Wahrheit, Unrecht für Recht, Tollwut für Vernunft zu halten, von mir tagtäglich mühelos abgewiesen wurde. Denn der bessere Mut war der meine, im eigenen Lager den Feind zu sehen! Und wer die Furcht vor der wirkenden Macht nicht gekannt hat, dem, nur dem, steht es auch zu, kein Mitleid mit der gebrochenen Macht zu kennen. War doch die Gemütsverfassung, mit der ich mich vor das Angesicht dieser höchst subalternen Gewalttäter gestellt habe, durch alle Trauer hindurch, durch allen Schmerz und alle Scham hindurch stets die einer unbesiegbaren Heiterkeit. Und solche Zeugenschaft ist opfervoll genug. Denn gäbe es ein schwereres Durchhalten als lachen zu müssen, wo man aufschluchzend in den letzten Wald rennen möchte, den dieses organisierte Verhängnis noch nicht vergast hat? als das Unvermögen, einer Glorie, die in einer verelendeten, verhungerten, verlausten, verluderten Welt umging und in Rucksäcken ihre Lorbeern trug, die Glorie zu glauben? als den Fluch, standzuhalten diesem elenden Komplott von Schindern und Schiebern, das ein Volk mit dem Fusel des Schlachtruhms besoffen gemacht hat, um es abzuschlachten, und abgeschlachtet hat, um es auszurauben! Diesen Allerhöchstverrätern, die keinen Vorwand vaterländischer Ehre gescheut haben, um sich selbst zuliebe den schuftigen Griff in die fremden Lebensgüter zu begehen; die mit jedem Atemzug jene abgelebten Vorstellungen geschändet haben, in deren Namen sie über Leben, Glück, Jugend, Gesundheit, Freiheit, Ehre, Recht und Besitz der andern verfügten; hinter Fahnen ihr Diebsgeschäft betrieben und, herzlose Verwalter des feigen Maschinentods, die Menschheit an das Vaterland verraten haben und das Vaterland an ihre Niedertracht. Nun aber welche Wendung durch Gottes Fügung! Nun aber welche Atempause! Welch ein Lauschen auf den großen Hammer am Tor dieser Zeit; welch ein Spähen nach dem Licht, das in die Nacht dieser geistigen Burgverließe dringt; welch ein Beben in den Basalten, die nicht zu haben, Amerika es besser hat! Wenn dies keine Wende ist, hat der Planet noch keine erlebt! Wenn hier kein Fortinbras naht, hat es nie Trümmer einer Herrschaft gegeben, war nie eine aus den Fugen gegangene Zeit einzurichten. Wie Horatio empfange ich ihn:

Und laßt der Welt, die noch nicht weiß, mich sagen,
Wie alles dies geschah; so sollt ihr hören
Von Taten, fleischlich, blutig, unnatürlich,
Zufälligen Gerichten, blindem Mord;
Von Toden, durch Gewalt und List bewirkt,
Und Planen, die verfehlt zurückgefallen
Auf der Erfinder Haupt: dies alles kann ich
Mit Wahrheit melden.

Und werde, da sie alle schon, diese Macht- und Unrechthaber in der Nachbarschaft ihres Schicksals leben, dazu helfen, daß auch ihre Helfer, ihre Verführer, die Handlanger ruchlosesten Tagwerks, die journalistischen Rädelsführer dieses blutigen Betrugs, die Dekorateure des Untergangs, die Rekommandeure der Leichenfelder, die unfaßbaren Berichterstatter dieses tragischen Karnevals dingfest gemacht werden. Auch verbürge ich mich dafür, daß es dahin kommen wird, daß alle jene, die, soweit das Gehirnweichbild dieser Stadt sich dehnt und solange die Belange dieses Reiches reichen, eine der Blutpressen noch halten, für ehrlos erklärt werden. Weh dem, der den anonymen Henkern das neue Geschäft fördern wollte, ihnen, die nun, weil der wortgeborne Mord nicht mehr Gewinn, sondern Gefahr bringt, schon daran sind, die Menschlichkeit in eine Phrase zu verwandeln! Der panikartige Übergang ganzer Divisionen von Tellerleckern zu Wilson, die elende Bereitschaft, die Konjunktur des neuen Weltgefühls auszunützen, wird weder die Parasiten des entthronten Ideals noch deren ganzen Anhang davor schützen, erkannt und nach den Verdiensten ihrer doppelt gezählten Kriegsjahre behandelt zu werden — und so wahr mir Gott helfe, ich werde es mir angelegen sein lassen, daß alle jene, denen vierzehn fernhintreffende Punkte heute fast so imponieren wie gestern ein Hundertzwanzig-Kilometer-Geschütz, für eine Auszeichnung bei der nun weltmaßgebenden Stelle »eingegeben« werden. Gewaltiger als die Reue über die Tat fasse uns der Ekel am Wort und nehme so Besitz von den Gemütern, daß wir uns nie wieder Gut und Blut von jenen unverantwortlichen Organen herauslocken lassen, die den Ruf des Vaterlands mißtönender wiedergaben und die sich nun unter den Stimmen des ewigen Friedens verstecken möchten. Wenn die große Zeit, die in unserer Zone die niedrigste war, nun endlich daran ist, eine große Zeit zu werden, so wird sie es uns sein, wenn wir dem unbrauchbaren politischen Hausrat mit einem zweiten Ruck auch allen geistigen Unrat nachwerfen, allen Trödel ausrangierter Vorstellungen und alles Inventar der professionellen Wortverbrecher und sie selbst! Es kommt der Tag, wo die Embleme und Ornamente der überstandenen Glorie uns zu übernächtigem Grauen anstarren werden wie Faschingsmasken und fahle Schminkgesichter bei Sonnenlicht. Aber wenn wir, großmütig wie wir Menschenkinder sind, weil wir um eines Strahles der Freiheit willen gern alle Fieberträume der Nacht vergessen, die staatlichen Träger und Diener jener tödlichen Ideale pardonnieren möchten, und weil wir Mitleid mit ihrer Dummheit haben — Gott schütze uns vor der Gnade, die wir an die publizistischen Zwischenträger und Nutznießer vergeuden würden, an die Schriftgelehrten, die es schwarz auf rot gaben, als die Menschheit gekreuzigt wurde. Feder für Feder, Schuft für Schuft sollen sie uns das Blutbad, das sie uns gerüstet und gepriesen haben, ausgießen!

Deutsche Ansichtskarte

Vgl.: Die Fackel, Nr. 499-500, XX. Jahr
Wien, 20. November 1918.