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September 1917

Warum Pferde wiehern

[Verbrüderung zwischen französischen und amerikanischen Pferden.] In dem Blatte Arthur Meyers, dem »Gaulois«, schildert Marcel Hutin die Ankunft des ersten amerikanischen Truppendampfers und erwähnt unter anderen Dingen die Tatsache, daß unter den neuen Kampfgenossen sich auch Artilleristen befanden. Wie Marcel Hutin mit Genugtuung feststellen konnte, haben nun die Pferde der amerikanischen Kanoniere ihre begreifliche Freude, den französischen Boden zu betreten, durch lautes und wiederholtes Wiehern zum Ausdruck gebracht. Die auf dem Hafenkai stehenden französischen Pferde haben die patriotische Kundgebung der amerikanischen Brüder sofort durch ein gleiches Wiehern erwidert. Hutin fügt wörtlich hinzu: »Dies ist das schönste und vollkommenste Zeugnis für die amerikanisch-französische Einigkeit, da das tiefe Gefühl der Verbrüderung von den Menschen auf die Tiere übergegangen ist.«

Ganz nach der Kriegsfibel gedacht, ohne Zweifel. Der Herr Hutin ist ein Journalist, der vom Tod lebt — warum sollte er weniger auf die Abnehmer bedacht sein, als die Interessenten diesseits der Rheingrenze? Wenn nach dem selbstmörderischen Witz des sterbenden Heine »Gottes Geschäft« es ist, zu verzeihen, so wird doch einem Kriegsschreiber das geschäftliche Interesse, das ihn zur Schändung der Kreatur bewegt, als das ausschließlich berechtigte zugebilligt werden. Der vaterländische Hohn sollte bedenken, daß an derselben Stelle, an der er den feindlichen Wahn bloßstellt, im Laufe der letzten drei Jahre während der Verpulverung der Leiber zur Aufpulverung der Seelen schon Trostloseres geboten ward. Herr Marcel Hutin ist ein französischer Journalist. Aber Herr Richard Dehmel ist ein deutscher Dichter.

Im April 1916 war in der Fackel zu lesen:

Wo ist der Dichter, den jetzt noch der rasende Lauf der Menschenmaschine, dies unterschütterliche Walten der entfesselten Quantität zu einer segnenden Gebärde verleiten möchte und der nicht ein Spekulant wäre, sondern ein Dichter? Als es begann, gab es hingerissene Schwachköpfe. Was sagt man heute zu den Ausbrüchen eines Richard Dehmel, aus der Zeit, da

aus Schleswig und Elsaß, Tirol, Mähren, Krain
nur Deutscher wollt’ endlich jeder sein —
die Bruderscharen kamen »gegen russischen, welschen, britischen Neid« gefahren.

Und was kommt hinterdrein noch getönt,
was stampft so eisern die Erde,
daß uns die Wand des Herzens dröhnt?
Das waren die deutschen Pferde.
Mit witternden Nüstern auf der Wacht
trugen auch sie ihr Blut zur Schlacht
für Deutschlands Ehre und Recht und Macht —
in den Dörfern tobten die Hunde;
auch unsere Tiere spürten den Ernst
der großen Gottesstunde.

Die große Gottesstunde war damals nicht darnach angetan, einem Dichterherzen die Erleuchtung zu bringen, daß Tiere wohl die tragischesten Opfer des Willens zur Macht sind, da ihnen auch nicht die entfernteste Schuld an dem Zustandekommen der allgemeinen Wehrpflicht beigemessen werden kann und daß ihre Unterwerfung unter den Begriff des nationalen Ehrgefühls sicherlich von allen Kriegsgreueln das tollste ist. Damals hat einen deutschen Dichter noch die Vorstellung inspiriert, daß ein französisches Pferd aus Revanchelust, das eines Kosaken aus Raubgier, das des »Söldners« offenbar aus Konkurrenzneid mitmache und nur dann kein Schuft sei, wenn es zu den eigenen Pferden, den braven, desertiere, und daß auch alle Pferde, die aus Mähren oder Krain requiriert wurden, nichts anderes im Sinne hätten als den Wunsch, endlich deutsche Pferde zu sein.

Und in einer Vorlesung dieser Stelle, im Dezember 1916, setzte ich hinzu:

Aber den Wunsch, deutsche Dichter zu sein, haben sie Gott sei Dank noch immer nicht!

Denn wenn sie auch »einrückend gemacht« werden, bis zu dem Stadium der Begeisterung gingen sie doch nicht mit, auf dem dieser Dehmel — man muß es der Nachwelt, falls es deren Geschäft wäre, Dichtern zu verzeihen, in Erinnerung bringen — das Geräusch der Maschinengewehre ausdrücklich »Sphärenmusik« genannt hat und die Zeile geschrieben:

Marsch marsch, ruft Gott, schützt euer Land!

Dichter, die sich so hinreißen ließen (hier hat der hingerissene Setzer anfänglich »hirnreißen« gesetzt), hats 1916 tatsächlich nicht mehr gegeben. Kernstöcke, die andere zum Dreschen ermuntern, gibts noch immer, oder Spekulanten, die ihren Dörmann stellen und weil die hektischen schlanken Narzissen nicht mehr blühen, die Russen und die Serben in Scherben hauen wollen. Was aber bedeuten die Hutins aller Hinterländer gegen die eine unauslöschliche Tatsache, daß dieser Krieg nicht nur das Publikum wie zur leiblichen Beute der Wucherer zur geistigen Beute der Journalisten, also aller derer, die vom Tode leben, sondern auch aus den paar Dichtern dieselben rasenden Rolande der Dummheit gemacht hat, die ihre Leser seit der ersten Extraausgabe waren! Seit dem Tage, da durch jenes Machtwort, das Leiber entfesselt und Geister bindet, das verurteilte Leben in eine Kinderstube verwandelt ist, wo Viehknechte spielen. Weiß Gott, die nationalistisch verbohrtesten Pferde hatten doch einen Vorzug vor den gesinnungsverwandten Dichtern: daß die Pferde zwar keine Dichter, aber die Dichter durchaus Pferde sein wollten, was durch ein von den Dichtern mißdeutetes Hohngewieher an allen Fronten zum Ausdruck kam.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 462-471, XIX. Jahr
Wien, 9. Oktober 1917.