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Es muß das Klima sein

Es muß das Klima sein; anders ist bei den Menschen, die hier den Kulturton geben und nehmen, dieser unbezähmbare Drang nach seelischer Entblößung nicht zu erklären, und in keiner andern Zone beobachtet man diese völlige, ihrer selbst unbewußte, keiner Fliege ein Haar krümmen könnende Grausamkeit, die sich noch an den Motiven des Mitleids und der Nächstenliebe vergreift. Sie fühlen vielleicht mehr, wenn sie Blinde frozzeln, als wenn sie Tote beklagen. Aber wenn sie beim Nachtmahl die Statistik der Kinderleichen ihrer Stadt lesen und daß sich da »die Kette zusammenschließt, die bei der Unterernährung beginnt und beim großen Sterben durch Tuberkulose und Blutarmut endet«, so fühlen sie nicht einmal, daß sie selbst die Kette sind mit ihrem Handel und Wandel, mit ihrer Presse, mit ihrer tödlichen Moral von Leben und Lebenlassen. Und während ein Schock ihrer Opfer verscharrt wird, wälzt sich eine Jauche von Frohsinn durch die Straßen, aus der kein Menschenfischer einer Seele habhaft werden kann. Die hier entarten noch in der Niederlage. Was hier lebt, wüßte keinen Grund hiefür anzugeben; aber sie sind von einem nie enttäuschten Wunderglauben berechtigt, der dem Selbsterhaltungstrieb eine Art Weihe gibt. Sie sind im Krieg nicht von Bomben, sondern von Flugzetteln heimgesucht worden, sie überstehen die Revolution, weil sie überzeugt sind, daß die Bolschewiken — Plural von »der Bolschewiki« —, deren Problem der Spießbürger aller Kapitalsverbände doch wenigstens in Angstträumen erlebt, nichts für Wien sind. Sie haben auf Vulkanen getanzt; sie machen sich’s in Kratern kommod. Wie sollte ihnen die Revolution was anhaben, da sie die österreichische Ordnung aushielten und vor der Weltgeschichte mit dem Merkmal dastehn, »in diesem Wust von Raserei«, im Mittelpunkt der nationalen Hexenküche es »gemütlich« gefunden zu haben! Wenn ein Cafetier seinen Entschluß, abzudanken, feierlich widerruft, so nehmen sie’s als Pfand für die Restauration der Monarchie, und der Untergang des Wieners vollzieht sich nur wie der des Hans Styx, der endlos aus der Versenkung auftaucht, um zu versichern, daß er einst Prinz war von Arkadien. Diese einzigartige, am höchsten Vorbild geschulte Überlebensfähigkeit erklärt sich als Gabe, zugleich nach oben und unten, nach der Vergangenheit und nach der Zukunft den Anschluß nicht zu versäumen. Er kriecht überall hinein, wo es dem ungelenkem deutschen Bruder »vorbeigelingt«, und wenn dieser noch untendurch ist, ist jener schon obenauf. Er hat einen »eisernen Vurrat« von monarchistischen Vorstellungen, an den er nicht rühren läßt, aber kein Schlagwort der Entwicklung gibt es, auf das er nicht anbeißt. Dieses Charakterbild einer in Bewegung geratenen Gallerte, deren Farbenspiel das Entzücken aller Kulturspezialisten bildet, kommt am deutlichsten in der Schamlosigkeit eines Literatentums zur Erscheinung, das gestern vor dem elastischen Schritt einer Sekundogenitur im Staube lag und sich heute um einen Freiplatz auf der Barrikade bewirbt, das seinen Männerstolz hinter Königsthronen nun ohne Königsthrone erst zur Geltung bringt. Mangels jeglicher Haltung diese in allen Lebenslagen bewahren; auf alles gefaßt sein, weil man von nichts zu fassen ist; aus nichts die Konsequenz ziehen können und nicht einmal aus dem Nichts ihres Seins; nichts ernst nehmen und nicht einmal diese größte Tragödie: sich selbst — das ist die Struktur von Menschen, für die nur das eine charakteristisch ist, daß sich zu ihrer Wesensbestimmung nichts Definitives sagen läßt, es wäre denn das tödliche Urteil, daß sie dazu geboren scheinen, die Wähler des Grafen Czernin zu sein. Wohl entspricht es ihrer Erziehung, mit Fingern auf einen zu zeigen, aber es gilt mehr den markanten Persönlichkeiten als den anrüchigen und solchen nur dann, wenn im Morgenblatt etwas zu lesen war, was aber die Leser wie die Betroffenen bis zum Abendblatt bereits vergessen haben, so daß diese sich getrost noch am selben Tag wieder am Graben zeigen können. Im Gegenteil, bliebe einer aus, so würde man allerlei munkeln und dann erst entstünde ein Gerücht, das bei weitem bedenklicher und verläßlicher ist als ein Beweis. Als Inbegriff einer Ehrenrettung aber dünkt sie jener Entschluß, der sich in der vollkommensten Negation aller Anfechtung ausdrückt: Gar net ignorieren!, und wenn einer tot ist, so scheint es sich ihnen endlich aufzuklären, warum man ihn jetzt so selten auf der Ringstraße sieht. Sie haben es gar nicht nötig, Katastrophen umzulügen; sie nehmen sie einfach nicht zur Kenntnis. Jene Selbstbekömmlichkeit des neudeutschen Wesens, der bei jedem Verlust ein Nationalschatz herauskommt, jeder Rückzug als strategischer Triumph resultiert, jeder feindliche Vorstoß als des Feindes bitterste Enttäuschung, und die uns diese letzten Geduldproben von Heeresberichten auferlegt hat, in denen noch die pure Wahrheit eine Lüge war, findet hier ihr Pendant in einer Gemütsverfassung, die sich gar nicht erst mit dem Umschalten abstrapaziert, sondern einfach ausschaltet, fertig. Um aber auch der Mitwelt tunlichst entgegenzukommen und damit sie die Mißbildung nicht merke, schließt man die Augen, und hält sich die Ohren zu, damit sich auch niemand über den Lärm beschweren kann. Indem sich aber keiner die Nase zuhält, ist der Beweis geliefert, daß es nicht stinkt. Was immer ihr Staatsamt aufdecken mag, Leute, deren Element die Neugierde ist, berührt kein sachliches Verschulden, wenn nicht etwa die Wäsche, die aus Monturdepots abhanden kam, Bettwäsche war, und wer nur in der Generalversammlung von Staatsverbrechern unter anderen bemerkt wurde, bleibt ein Mitglied der guten Gesellschaft. Auf Rehabilitierung wird kein Wert gelegt; gelingt sie, so gewahrt niemand, wie viel Schmutz für die andern abfallt. Da ein einziger Würdenträger von dem Vorwurf, Armeegut für sein Bedürfnis erhalten zu haben, losgesprochen war, schien die alte Macht rehabilitiert. Denn ihr war das Glück widerfahren, daß jener die Wäsche für arme italienische Kriegsgefangene gebraucht hat, die das Hemd acht Monate nicht gewechselt hatten und von Ungeziefer starrten. Und niemand empfand die Schmach einer Wirtschaft, der solche Anklage zur Verteidigung frommt. Niemand fühlt den Wunsch, man hätte doch tausend Lagerinspizienten zu Unrecht beschuldigen sollen, Wäsche und Nahrung für sich empfangen zu haben, wenn auf diese Art nur festgestellt wurde, daß es den armen Gefangenen zugute gekommen ist, und das Schauerbild aus der Erinnerung verbannt war von den zwei halbverhungerten Russen in dem seit Tagen nicht geöffneten Raum: sie waren schon so entkräftet, daß sie sich nicht erheben konnten, um den zwischen ihnen verwesten Leichnam ihres Bettgenossen fortzuschaffen, bis ein Namensvetter jenes Czernin, der damals seinen Frieden mit Rußland machte, auf den Übelstand aufmerksam ward und mit der Entfernung des Leichnams die des lebendigen Lagerkommandanten veranlaßte. Und die Verweser all unserer Lebensgüter spürten nicht das satirische Grauen jenes »Erlasses«, durch welchen militärische Stellen beauftragt wurden, »diesbezüglich das Weitere zu veranlassen«, damit durch die »Entfaltung einer der russischen Volksseele angepaßten Propaganda« tunlichst auf die Gefühle eingewirkt werde, mit denen die russischen Kriegsgefangenen »an die in unserem Vaterlande verbrachte Zeit zurückdenken«. Sie sollten dereinst sagen können: Schön war’s doch! Zu diesem Behufe sollten sie aber, soweit sie nämlich mit dem Leben davonkamen und nicht bestimmt waren, noch auf dem Nordbahnhof erschossen zu werden, »erst knapp vor Abfahrt« dieser Propaganda ausgesetzt werden, damit »dieselben mit dem frischen unvermittelten Eindruck, den sie hiebei empfangen, in ihre Heimat zurückgelangen«. In einer der beiden urkomischen Fassungen, die mir vorliegen, wird die Hoffnung ausgesprochen, daß durch »eine im richtigen Augenblick zeitgerecht einsetzende Einwirkung unsererseits« es gelingen werde, »von den zahllosen, in der Gefangenschaft gewonnenen Eindrücken und Erfahrungen die ungünstigen abzuschwächen, die erfreulichen und angenehmen jedoch zu beleben und zu befestigen«. Unter den Mitteln, mit denen die Einwirkung auf die russische Volksseele erzielt werden sollte, fehlt nicht der Hinweis darauf, daß wir eh die reinen Lamperln sind, wie speziell, was nicht zu vergessen ist, auf die »vielen früheren Kriege, wo Russen und Österreich-Ungarn tapfer zusammengekämpft haben«, und so, wenn in den letzten Tagen auch noch a bißl die Menage aufgebessert wird, werde es denn nicht fehlen können, daß die in ihre Heimat zurückkehrenden Russen nicht nur »nicht mit stumpfer Gleichgültigkeit oder gar feindseligem Haß an uns zurückdenken, sondern wissentlich und aus voller Überzeugung als Sendboten öst.-ung. Kultur in ihrem eigenen Vaterlande tätig sein werden«. So daß also die Propaganda dann von ihnen selber gemacht wird. Mehr als das. Der auch den Russen unvergeßliche Typus Nowotny von Eichensieg, der jetzt seine humanen Abschiedskapriolen macht, hofft, daß sie ihn selbst zum Dank hiefür »stramm und gehorsam salutierend begrüßen« werden. Ich kann nur sagen, daß die russischen Kriegsgefangenen die Tränen, die sie hier vergossen haben, nun lachen müßten, wenn sie diesen Erlaß, in beiden Gestalten, zu Gesicht bekämen, in welchem noch speziell auf die »rasche und rückhaltlose Anknüpfung von Handelsbeziehungen« Wert gelegt wird, und daß ihre Geneigtheit, Sendboten der öst.-ung. Kultur oder sogar deren Agenten zu werden, schier zu einem unbändigen Verlangen ausarten würde. Eine solche »Umstimmung der russischen Volksseele«, die das Kriegsministerium im vierten Jahr der Verwahrlosung der russischen Volkskörper angeordnet hat, um den »Abbau der von unseren Feinden über die ganze Welt verbreiteten Lügenpropaganda« endlich herbeizuführen, ist infolge Demolierung des Hauses Österreich leider nicht mehr erfolgt; sie ließe sich nur durch Verteilung des Textes nachholen. Die Welt braucht eine Aufheiterung; ihr sollten die Schritte nicht vorenthalten werden, die Österreich diesbezüglich und tunlichst unternommen hat, »um eine günstige Einwirkung zu erzielen«, und die wie so vieles andere die Bemühung des tragischen Hanswurstes geblieben sind, um die letzten Zuckungen der Menschheit zu parodieren. Und ein Da capo würde am Schluß dem Saltomortale danken: »Mit einer aus tiefster Wahrhaftigkeit entspringenden Überzeugung kann gerade in Österreich-Ungarn« (wo also nicht?) »den heimkehrenden Russen die offenherzige Versicherung mitgegeben werden, wie wenig unser Vaterland den Krieg gewollt hat.« Ja dieser Janus mit den zwei Gesichtern, von denen das eine vorwärts sieht, das des Falloten, und das andere rückwärts, das des Idioten, konnte endlich den Tempel »zuspirrn«. Aber die Gläubigen werden nicht alle, und die Priester auch nicht, und da sie allesamt in einer Luft leben, in der sie Ehrlosigkeit einatmen, so ist es ihnen ein sittliches Bedürfnis, den armen, verfolgten Kerkermeistern der Menschheit gegen die grausamen Befreier beizustehn. Krieg ist Krieg der andern, Revolution der eigene Krieg. Der Kriegsgewinn erweist sich dem Säbel erkenntlich, und im Burgfrieden des durchdringendsten Judentums und des stumpfsten Antisemitismus arbeitet die einzig authentische Geldrasse, die gemeinsame, gegen alle Entsündigung. Welt- und wahlverwandt, der unverfälscht utilitarische Schlag geborner Parteigegner, die einander nur nicht riechen konnten, solange sie nicht wußten, daß sie beide stinken. Moabitische Gestalten, die schon im Frieden wie der goldgelbe Götze Mammon aussahen und nun den Bauch des Moloch dazugewonnen haben, sind jene »Individualitäten«, für deren Entfaltung Spielraum verlangt und in biographischen Porträts geworben wird, die so ähnlich sind, daß man durch Brechreiz eine optische Täuschung erlebt, und da die Kontakte dieser eiterigen Welt die unumstößliche Norm sind, der auch alle Würde und selbst aller Umschwung erliegt, so hat der Staatskanzler manchmal die Liebenswürdigkeit, einem unserer Mitarbeiter Gelegenheit zu geben. Männer aber, deren Ehre, Mut und Verstand in der hirnlosen Schmach dieser Soldatenjahre heil geblieben sind, wie Heinrich Lammasch, von einem selbstverräterischen Volk so lange vereinsamt, bis er ihm nicht mehr helfen konnte, oder Friedrich Austerlitz, der durch seine Strafakten über die Feldjustiz mehr zur Belehrung der Überlebenden und der Nachlebenden getan hat, als hundert Kriegsschreiber zu ihrer Belügung imstande waren, haben Österreichs Hinterbliebenen weniger zu sagen als die bezahlten Lobredner des verblichenen Phantoms. Und das Andenken eines Viktor Adler, die in jeder Kulturgemeinschaft fortwirkende Macht eines sittlichen Vorbilds, das auch dem abgewandten Leben etwas von bleibender Ehrfurcht hinterläßt, versagt an der vorsätzlichen Niedrigkeit der Wiener Denkform, an dem unseligen Justament, das der letzte Wille einer Empuse ihren Völkern vermacht hat. Nichts ist zu hoffen, denn da kann man halt nichts machen. Gegen die Überraschungen der Wahrheit sind sie durch Frechheit gefeit, gegen den Zugriff der Gewalt durch Höflichkeit, und sie würden nicht zögern, zum Schutz vor Enthüllungen die Pariser Polizei in Anspruch zu nehmen, da ihnen die hiesige nicht mehr helfen kann. Gegen sie selbst aber, gegen ihre Verleumdung, gegen ihre schmutzige Annäherung schützt keine Ehre und kein geistiges Verdienst. An solche Kreaturen habe ich die Nächte von zwanzig Jahren gewendet. Keinen einzigen Beweis ihrer Unheiligkeit, ihrer Ungläubigkeit vor dem Geist, ihrer Abhängigkeit von der Lüge, ihrer jovialen Bosheit, ihrer souveränen Niedrigkeit und der stupiden Qual ihrer Klischees haben sie mir bis zu diesem Tage zum Opfer gebracht.