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§ 5. Evidenz und die Idee der echten Wissenschaft

In dieser Art und Richtung fortmeditierend erkennen wir anfangende Philosophen, daß die Cartesianische Idee einer Wissenschaft und schließlich einer Universalwissenschaft aus absoluter Begründung und Rechtfertigung nichts anderes ist als die Idee, welche in allen Wissenschaften und in ihrem Streben nach Universalität die ständig leitende ist — wie immer es mit ihrer tatsächlichen Verwirklichung stehen mag.

Evidenz ist in einem allerweitesten Sinne eine Erfahrung von Seiendem und So-Seiendem, eben ein Es-selbst-geistig-zu-Gesicht-Bekommen. Widerstreit mit dem, was sie, was Erfahrung zeigt, ergibt das Negativum der Evidenz (oder die negative Evidenz) und als seinen Inhalt die evidente Falschheit. Evidenz, wohin in der Tat alle Erfahrung im gewöhnlichen engeren Sinne gehört, kann vollkommener und weniger vollkommen sein. Vollkommene Evidenz und ihr Korrelat, reine und echte Wahrheit, ist gegeben als eine dem Streben nach Erkenntnis, nach Erfüllung der meinenden Intention innewohnende bzw. durch Einleben in solches Streben zu entnehmende Idee. Wahrheit und Falschheit, Kritik und kritische Adäquation an evidente Gegebenheiten sind alltägliches Thema, schon im vorwissenschaftlichen Leben ihre beständige Rolle spielend. Für dieses Leben des Alltags mit seinen wechselnden und relativen Zwecken genügen relative Evidenzen und Wahrheiten. Wissenschaft aber sucht Wahrheiten, die ein für allemal und für jedermann gültig sind und gültig bleiben, und demgemäß neuartige und bis ins letzte durchgeführte Bewährungen. Wenn sie, wie schließlich sie selbst einsehen muß, de facto nicht zur Verwirklichung eines Systems „absoluter“ Wahrheiten durchdringt und genötigt ist, ihre Wahrheiten immer wieder zu modifizieren, so folgt sie eben doch der Idee der absoluten oder wissenschaftlich echten Wahrheit und lebt demgemäß hinein in einen unendlichen Horizont auf diese Idee hinstrebender Approximationen. Mit diesen meint sie, das Alltagserkennen und sich selbst in infinitum übersteigen zu können; das aber auch durch ihr Absehen auf systematische Universalität der Erkenntnis, sei es bezogen auf ein jeweilig geschlossenes Wissenschaftsgebiet, sei es auf eine vorausgesetzte All-Einheit des Seienden überhaupt, wenn eine Philosophie möglich und in Frage ist. Der Intention nach gehört also zur Idee der Wissenschaft und Philosophie eine Erkenntnisordnung von an sich früheren zu an sich späteren Erkenntnissen; letztlich also nicht ein willkürlich zu wählender, sondern in der Natur der Sachen selbst begründeter Anfang und Fortgang.

In dieser Art also enthüllen sich uns durch besinnliches Einleben in das Allgemeine des wissenschaftlichen Strebens Grundstücke der es zunächst vage beherrschenden Zweckidee der echten Wissenschaft, ohne daß wir darum im voraus für ihre Möglichkeit oder für ein vermeintlich selbstverständliches Wissenschaftsideal präjudiziert hätten.

Man darf hier nicht sagen: Wozu sich mit dergleichen Untersuchungen und Feststellungen behelligen? Sie gehören offenbar zur allgemeinen Wissenschaftslehre oder Logik, die hier wie auch weiterhin selbstverständlich anzuwenden sei. Aber gerade vor dieser Selbstverständlichkeit müssen wir uns hüten. Wir betonen, was wir schon Descartes gegenüber gesagt haben: Wie alle vorgegebenen Wissenschaften, so ist auch die Logik durch den allgemeinen Umsturz außer Geltung gesetzt. Wir müssen uns alles, was ein philosophisches Anfangen ermöglicht, allererst selbst erwerben. Ob späterhin eine echte Wissenschaft von der Art der traditionellen Logik sich uns ergeben wird, darüber können wir jetzt nichts wissen.

Wir haben durch die soeben — mehr ungefähr angedeutete als explizit ausgeführte — Vorarbeit soviel an Klarheit gewonnen, daß wir für unser ganzes weiteres Vorgehen ein erstes methodisches Prinzip fixieren können. Es ist offenbar, daß ich als philosophisch Anfangender in Konsequenz davon, daß ich auf das präsumptive Ziel echter Wissenschaft hinstrebe, kein Urteil fällen oder in Geltung lassen darf, das ich nicht aus der Evidenz geschöpft habe, aus Erfahrungen, in denen mir die betreffenden Sachen und Sachverhalte als sie selbst gegenwärtig sind. Freilich muß ich auch dann jederzeit auf die jeweilige Evidenz reflektieren, ihre Tragweite erwägen und mir evident machen, wie weit sie, wie weit ihre Vollkommenheit, die wirkliche Selbstgebung der Sachen reicht. Wo sie noch fehlt, darf ich keine Endgültigkeit beanspruchen und das Urteil bestenfalls als ein mögliches Zwischenstadium auf dem Wege zu ihr hin in Rechnung stellen.

Da die Wissenschaften auf Prädikationen hinauswollen, die das vorprädikativ Erschaute vollständig und in evidenter Anpassung ausdrücken, so ist selbstverständlich auch für diese Seite der wissenschaftlichen Evidenz zu sorgen. Bei der Flüssigkeit, Vieldeutigkeit und der hinsichtlich der Vollständigkeit des Ausdrucks allzugroßen Genügsamkeit der allgemeinen Sprache bedarf es, selbst wo ihre Ausdrucksmittel benützt werden, einer Neubegründung der Bedeutungen durch ursprüngliche Orientierung an den wissenschaftlich erwachsenen Einsichten und ihrer Festmachung in diesen Bedeutungen. Auch das rechnen wir in unser von nun ab konsequent normierendes methodisches Prinzip der Evidenz.

Aber was hülfe uns dieses Prinzip und die ganze bisherige Meditation, wenn sie uns keine Handhaben böte, einen wirklichen Anfang zu machen, nämlich die Idee der echten Wissenschaft in den Gang der Verwirklichung zu bringen. Da zu dieser Idee die Form einer systematischen Ordnung von Erkenntnissen — echten Erkenntnissen — gehört, so ergibt ‹sich› als Frage des Anfangs die nach den an sich ersten Erkenntnissen, die den ganzen Stufenbau universaler Erkenntnis tragen sollen, tragen können. Für uns Meditierende in unserer völligen wissenschaftlichen Erkenntnisarmut müssen danach, wenn unser präsumptives Ziel soll ein praktisch mögliches sein können, Evidenzen zugänglich sein, die schon den Stempel solchen Berufes an sich tragen, sofern sie nämlich erkennbar sind als allen sonst erdenklichen Evidenzen vorangehende. Sie müssen aber auch hinsichtlich dieser Evidenz des Vorangehens eine gewisse Vollkommenheit, eine absolute Sicherheit mit sich führen, wenn von ihnen aus Fortgang und Aufbau einer Wissenschaft unter der Idee eines endgültigen Erkenntnissystems — bei der zu dieser Idee präsumptiv mitgehörigen Unendlichkeit — soll einen Sinn haben können.