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Neues von Blumen1

Kritisieren ist eine gesellige Kunst. Auf das Urteil des Rezensenten pfeift ein gesunder Leser. Aber was er im Tiefsten goutiert, ist die schöne Unart, uneingeladen mitzuhalten, wenn der andere liest. Das Buch auf solche Weise aufzuschlagen, so daß es winkt wie ein gedeckter Tisch, an dem wir mit all unseren Einfällen, Fragen, Überzeugungen, Schrullen, Vorurteilen, Gedanken Platz nehmen, so daß die paar hundert Leser (sind es so viele?) in dieser Gesellschaft verschwinden und gerade darum sich's wohl sein lassen – das ist Kritik. Zumindest die einzige, die dem Leser Appetit auf ein Buch macht.

Sind wir für diesmal einig, so soll auf den einhundertzwanzig Tafeln dieses Buches für zahllose Betrachtungen und zahllose Betrachter gedeckt sein. Ja, so viel Freunde wünschen wir diesem reichen und nur mit Worten kargenden Werke. Man wird aber das Schweigen des Forschers ehren, der diese Bilder hier vorlegt. Vielleicht gehört sein Wissen zu jener Art, die den stumm macht, der es besitzt. Und hier ist wichtiger als das Wissen das Können. Wer diese Sammlung von Pflanzenphotos zustande brachte, kann mehr als Brot essen. Er hat in jener großen Überprüfung des Wahrnehmungsinventars, die unser Weltbild noch unabsehbar verändern wird, das Seine geleistet. Er hat bewiesen, wie recht der Pionier des neuen Lichtbilds, Moholy-Nagy hat, wenn er sagt: »Die Grenzen der Photographie sind nicht abzusehen. Hier ist alles noch so neu, daß selbst das Suchen schon zu schöpferischen Resultaten führt. Die Technik ist der selbstverständliche Wegbereiter dazu. Nicht der Schrift- sondern der Photographieunkundige wird der Analphabet der Zukunft sein.« Ob wir das Wachsen einer Pflanze mit dem Zeitraffer beschleunigen oder ihre Gestalt in vierzigfacher Vergrößerung zeigen – in beiden Fällen zischt an Stellen des Daseins, von denen wir es am wenigsten dachten, ein Geysir neuer Bilderwelten auf.

Diese Photographien erschließen im Pflanzendasein einen ganzen unvermuteten Schatz von Analogien und Formen. Nur die Photographie vermag das. Denn es bedarf einer starken Vergrößerung, ehe diese Formen den Schleier, den unsere Trägheit über sie geworfen hat, von sich abtun. Was ist von einem Betrachter zu sagen, dem sie schon in der Verhüllung ihre Signale geben? Nichts kann die wahrhaft neue Sachlichkeit seines Vorgehens besser dartun, als der Vergleich mit jenem einstigen unsachlichen und doch so genialen Verfahren, kraft dessen der ebenso geschätzte wie unverstandene Grandville in seinen »Fleurs animees« den ganzen Kosmos aus dem Pflanzenreiche hervorgehen ließ. Er greift es vom entgegengesetzten Ende weiß Gott nicht zart – an. Er stempelt diesen reinen Naturkindern das Sträflingsbrandmal der Kreatur, das Menschengesicht, mitten in die Blüte hinein. Dieser große Vorläufer der Reklame beherrschte eines ihrer Grundprinzipien, den graphischen Sadismus, wie kaum ein anderer. Ist es nicht merkwürdig, hier nun ein anderes Prinzip der Reklame, die Vergrößerung ins Riesenhafte der Pflanzenwelt, sanft die Wunden heilen zu sehen, die die Karikatur ihr schlug?

»Urformen der Kunst« – gewiß. Was kann das aber anderes heißen als Urformen der Natur? Formen also, die niemals ein bloßes Vorbild der Kunst, sondern von Beginn an als Urformen in allem Geschaffenen am Werke waren. Im übrigen muß es dem nüchternsten Betrachter zu denken geben, wie hier die Vergrößerung des Großen – z. B. der Pflanze oder ihrer Knospe oder des Blattes – in so ganz andere Formenreiche hineinführt, wie die des Kleinen, etwa der Pflanzenzelle im Mikroskop. Und wenn wir uns sagen müssen, daß neue Maler wie Klee und mehr noch Kandinski seit langem damit beschäftigt sind, mit den Reichen uns anzufreunden, in die das Mikroskop uns barsch und gewaltsam entführen möchte, so begegnen in diesen vergrößerten Pflanzen eher vegetabilische »Stilformen«. In dem Bischofstab, den ein Straußfarn darstellt, im Rittersporn und der Blüte des Steinbrech, die auch an Kathedralen als Fensterrose ihrem Namen Ehre macht, indem sie die Mauern durchstößt, spürt man ein gotisches parti-pris. Daneben freilich tauchen in Schachtelhalmen älteste Säulenformen, im zehnfach vergrößerten Kastanien- und Ahornsproß Totembäume auf, und der Sproß eines Eisenhufes entfaltet sich wie der Körper einer begnadeten Tänzerin. Aus jedem Kelche und jedem Blatte springen uns innere Bildnotwendigkeiten entgegen, die in allen Phasen und Stadien des Gezeugten als Metamorphosen das letzte Wort behalten. Das rührt an eine der tiefsten, unergründlichsten Formen des Schöpferischen, an die Variante, die immer vor andern die Form des Genius, der schöpferischen Kollektiva und der Natur war. Sie ist der fruchtbare, der dialektische Gegensatz zur Erfindung: das Natura non facit saltus der Alten. Das weibliche und vegetabilische Lebensprinzip selber möchte man mit einer kühnen Vermutung sie nennen dürfen. Die Variante ist das Nachgeben und das Beipflichten, das Schmiegsame und das, was kein Ende findet, das Schlaue und das Allgegenwärtige.

Wir Betrachtenden aber wandeln unter diesen Riesenpflanzen wie Liliputaner. Brüderlichen Riesegeistern, sonnenhaften Augen, wie Goethe und Herder sie hatten, ist es noch vorbehalten, alle Süße aus diesen Kelchen zu saugen.



  1. Karl Bloßfeldt, Urformen der Kunst. Photographische Pflanzenbilder. Herausgegeben mit einer Einleitung von Karl Nierendorf. Berlin: Ernst Wasmuth [1928]. XVIII, 120 S.