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1936

Pariser Brief <I>

André Gide und sein neuer Gegner

Ein denkwürdiges Wort von Renan: »Über Gedankenfreiheit verfügt nur der, der sicher sein kann, daß, was er schreibt, ohne Folgen bleibt.« So zitiert Gide. Wenn das Wort zutrifft, so verfügt der Verfasser der »Nouvelles Pages de Journal«1 ebenso wenig über Gedankenfreiheit wie sein Gegner Thierry Maulnier2. Beide sind sich über die Folgen ihres Schrifttums im klaren und schreiben, um Folgen herbeizuführen. Wenn wir beiden das gleiche Interesse zuwenden, so berechtigt dazu weniger die Bedeutung des Jüngeren als die Entschiedenheit, mit der er seinen Standort angesichts eines Gide und ihm gegenüber bezogen hat. In dem Augenblick, da Gide den Kommunismus zu seiner Sache macht, bekommt er es mit den Faschisten zu tun.

Nicht als ob nicht schon andere Gide gestellt hätten. Sein Weg ist aufmerksam seit 1897 verfolgt worden, da er mit einem berühmten Artikel in der »Ermitage« Barrès entgegengetreten war, der mit den »Déracinés« eben damals dem Nationalismus Dienste geleistet hat3. Später wurde die religiöse Entwicklung des Protestanten Gide literarisch verfolgt und von keinem genauer als von seinem Freund, dem katholischen Kritiker Charles Du Bos. Daß Gides »Corydon«, der die Päderastie nach ihren naturgeschichtlichen Bedingungen und Analogien darstellte, einen Sturm hervorrief, ist nicht schwer verständlich. So kam es, daß Gide gewohnt war, auf Opposition zu stoßen, als er 1931, in dem ersten Band seiner Tagebücher seinen Weg zum Kommunismus beschrieb.

Mit einer Fülle von Glossen und Polemiken reagierte das bürgerliche Schrifttum auf diesen Band. Daß das »Echo de Paris« (das den »Croix de Feu« nahesteht) unter der Feder von François Mauriac dreimal auf dieses eine Buch zurückkam, kann von dem Aufsehen, das Gide hervorrief, eine Vorstellung geben. Die Debatte war zu ausgebreitet, auch zu erbittert, um durchweg Niveau zu halten. Ihren geistigen Höhepunkt hatte sie in der »Union pour la Vérité«, in der Gide einem Kreis von bedeutenden Schriftstellern Rede und Antwort gestanden hat.4 Sie war noch nicht zur Ruhe gekommen, als in diesem Jahre die »Nouvelles Pages de Journal« erschienen.

Soweit Gide selber die Diskussion bestimmte, hat sie sich vielfach um die Frage gedreht, wieweit er mit seiner Wendung sich selber treu bleibe oder einen Bruch mit der Gedankenwelt seines Mannesalters vollziehe. Gide konnte sich – und er tat das im ersten Band seiner Tagebücher – auf die Leidenschaft berufen, mit der er von jeher die Sache des Individuums zu der seinen gemacht habe; eine Sache, von der er erkannt hat, daß sie heute im Kommunismus ihren berufenen Anwalt besitzt. Der neue Band der Tagebücher enthält mehrere Notizen, die eine verborgenere doch darum nicht unwichtigere Kontinuität in Gides Entwicklung erkennen lassen. Gide berührt diese Kontinuität, wenn er der »Apologie der Bedürftigkeit« (S. 167) gedenkt, die sich durch sein gesamtes Werk zieht. Sie hat den mannigfachsten Ausdruck gefunden, und reicht von dem unvergeßlichen Frühwerk, der »Rückkehr des verlorenen Sohnes«5 bis zu dem jüngsten, den »Nouvelles Nourritures«,6 in dem wir lesen: »Jeder ausschließliche Besitz ist mir zuwider geworden; ich finde mein Glück im Fortgeben, und der Tod wird mir nicht viel aus der Hand nehmen. Von allem, was er mich wird entbehren lassen, wird mir das Entbehrteste sein, was überall ausgeteilt und natürlich, keinem zu eigen und aller Besitztum ist. Was aber den Rest angeht, so ist mir ein Mahl in der Herberge lieber als zu Hause der am besten bestellte Tisch, ein öffentlicher Park lieber als der schönste Park hinter Mauern, ein Buch, das ich beim Spaziergehen mitnehmen kann, lieber als die kostbarste Ausgabe, und sollte ich mir ein Kunstwerk allein ansehen müssen, so würde, je schöner das Werk ist, desto sicherer die Traurigkeit meine Freude beim Ansehen überwiegen.« (S. 61)

Gide hat für die Apologie der Bedürftigkeit die verschiedensten Formen gefunden. Sie alle fallen im Grunde mit der Entfaltung jener Bedürftigkeit zusammen, die unverstellt sichtbar zu machen dem jungen Marx (dem Verfasser der »Heiligen Familie«) als die Aufgabe der Gesellschaft erschienen ist; sie alle erscheinen Gide als Spielarten des Bedürfnisses, das der Mensch nach dem Menschen hat. Wenn Gide sich im Lauf seines Schaffens vielen Formen der Schwäche zugewandt hat, wenn er in seiner Studie über Dostojewski, die in mancher Hinsicht ein Selbstporträt ist, die Schwäche als »ein Ungenügen des Fleisches, eine Unruhe, eine Anomalie« in den Mittelpunkt stellt, so hat er es immer wieder mit der einen, des äußersten Anteils werten Schwäche zu tun, die den Menschen auf den Menschen verweist.

Gide beliebt solche Schwäche mitunter selbst an den Tag zu legen. Aber was ihn dazu bestimmt, ist nicht Schwäche. Es ist eher Berechnung. Er begibt sich in dies Inkognito, weil es ihn einiges über Welt und Menschen wird lehren können. Und so schrieb er im Mai 1935: »Man kann Tolstois Verzicht auf die Künstlerschaft aus dem Nachlassen seiner schöpferischen Kräfte erklären. Hätte sich eine zweite Anna Karenina in seinem Innern gestaltet, so hätte er sich – vieles spricht dafür – weniger mit den Duchoborzen beschäftigt und weniger abschätzig über die Kunst gesprochen. Aber er spürte, daß er am Ende seiner literarischen Laufbahn stand: der dichterische Drang schwellte nicht mehr sein Denken... Wenn mich heute soziale Fragen beschäftigen, so auch, weil der Dämon des Schaffens sich von mir zurückzieht. Jene Fragen nehmen den Platz nur ein, weil dieser ihn bereits räumte. Warum soll ich mich überschätzen? Warum nicht an mir selbst feststellen, was ich an Tolstoi unbedingt als eine Ausfallserscheinung betrachte?« (La Nouvelle Revue Française, Maiheft 1935, S. 665)

Wir wollen dem Autor hier nicht entgegnen. Die Frage nicht aufwerfen, ob denn Schöpferkräfte keinen vorübergehenden Schlummer kennen? (Gide selbst sagt das in seinen »Nouvelles Pages«); ob sie nicht ganz undämonisch zu Werk gehen können? (die »Nouvelles Nourritures« zeigen es); ob sie nicht auf geschichtliche Schranken stoßen? (Gides »Faux Monnayeurs« legen es für den Roman nahe.) Wir lassen Gide in seinem Inkognito einer aufschlußreichen Begegnung entgegengehen. Es ist die Begegnung mit Maulnier, der die obigen Sätze Gides in der »Action Française« zitiert und fortführt: »Kein Lob und kein Tadel kann diesen befremdlichen Zeilen etwas hinzufügen. Es ist, wie wir glauben, fast ohne Beispiel, daß ein Schöpfer mit solchem Geständnis hervortritt. Auch meinen wir, daß der Scharfblick, die Bescheidenheit und der rückhaltlose Mut gegen sich selbst, die einer so unbarmherzigen Diagnose zugrunde liegen, ein Anrecht auf unseren Respekt haben. Aber wir können uns nicht darauf beschränken, hier Respekt zu bezeigen. Diese tragische Offenheit ist reich an Aufschlüssen, die zu verschweigen wir nicht das Recht haben.«

Mit diesen Sätzen holt Maulnier zu einer umfassenden Kritik an Gide aus. Es ist eine Kritik, die viel Licht auf die faschistische Position und besonders auf den Kulturbegriff des Faschismus wirft. Die »Kultur« dem Kommunismus preisgegeben und verraten zu haben – das ist die Anklage, die Maulnier gegen Gides letzte Werke erhebt.

Die Ausbildung des Kulturbegriffs scheint einem Frühstadium des Faschismus anzugehören. Jedenfalls war das in Deutschland der Fall. Unverzeihlicherweise hat die revolutionäre deutsche Kritik vor 1930 es unterlassen, den Ideologien eines Gottfried Benn oder eines Arnolt Bronnen die nötige Aufmerksamkeit zuzuwenden. Wie diese zu den Vorläufern des deutschen Faschismus, so wäre, bestünde nicht die »Front Populaire«, Maulnier heute schon denen eines französischen zuzurechnen. Der baldigen Vergessenheit wird er wohl in keinem Falle entgehen. Denn je mehr der Faschismus erstarkt, desto weniger kann er grade auf Maulniers Spezialgebiet qualifizierte Intelligenzen brauchen. Die meiste Aussicht eröffnet er subalternen Naturen. Er sucht Handlanger des Propagandaministers. Darum wurden Benn und Bronnen verabschiedet.

Die Reaktion, die Maulnier vertritt, ist eine spezifisch faschistische und von der katholischen eines Claudel, von der bürgerlichen eines Bordeaux, von der mondainen eines Morand, von der philiströsen eines Bedel unterschieden. Er findet seine Genossen vorwiegend in der jüngeren Generation7. In der älteren sind entschiedene Faschisten, wie Léon Daudet oder Louis Bertrand, vereinzelt. Was Maulnier zum Faschisten macht, ist die Einsicht, daß die Position der Privilegierten sich nur noch gewaltsam behaupten läßt. Die Summe ihrer Privilegien als »die Kultur« vorzustellen, darin erblickt er seine besondere Aufgabe. Es versteht sich daher von selbst, daß er eine Kultur, die nicht auf Privilegien begründet ist, als undenkbar hinstellt. Und das Leitmotiv seiner Aufsätze ist, das Schicksal der abendländischen Kultur als unlösbar an das der herrschenden Klasse gebunden zu erweisen.

Maulnier ist nicht Politiker. Er wendet sich an die Intellektuellen, nicht an die Massen. Die unter den ersteren herrschende Konvention verbietet (in Frankreich noch) die Berufung auf die nackte Gewalt. Maulnier ist zu besonderer Vorsicht genötigt, wenn er an die nackte Gewalt appelliert. Er darf eigentlich diesen Appell nur vorbereiten. Das tut er ziemlich geschickt, wenn er proklamiert, es sei Sache einer »Synthese der Tat«, innere und äußere Realität selbst dann zusammenzuzwingen, wenn eine »dialektische Synthese« unmöglich bleibt (S. 19). Etwas deutlicher erklärt er sich mit dem an die kapitalistische Zivilisation (der ja immer das Scheingefecht der Faschisten gilt) gerichteten Vorwurf, sie habe angesichts der materiellen und der geistigen Probleme, vor welche das Zeitalter sie gestellt habe, die Kraft nicht aufgebracht, »sich ihre Unlösbarkeit einzugestehen« (S. 8).

Die Notwendigkeit, keine Argumente gegen die Privilegierten zu liefern, stellt den Schriftsteller, zumal den Theoretiker, heute vor ungewöhnliche Schwierigkeiten. Maulnier hat die Courage, mit diesen Schwierigkeiten kurzen Prozeß zu machen. Sie sind zum Teil moralischer Art. Der Sachwalter des Faschismus hat viel gewonnen, wenn er die moralischen Kriterien aus dem Wege geräumt hat. Dabei erweist er sich in der Wahl seiner Mittel nicht anspruchsvoll. Es ist ein rohes Geschäft; der Begriff kann sich keine Handschuhe dafür anziehen. Er packt zu, und zwar folgendermaßen: »Die Zivilisation ... ist die Einsetzung und die Ordnung der Kunstgriffe und der Fiktionen, die jeder Umgang von Menschen untereinander bedingt, das System der nützlichen Konventionen, die künstliche, lebensnotwendige Hierarchie in ihrer ganzen Größe und Unentbehrlichkeit. Die Zivilisation ist die Lüge... Wer nicht gewillt ist, ... in dieser Lüge die Grundbedingung jeden menschlichen Fortschritts und jeder menschlichen Größe anzuerkennen, gesteht, daß er ein Gegner der Zivilisation selber ist. Zwischen der Zivilisation und der Aufrichtigkeit muß man wählen.« (S. 210) So Maulnier in dem gegen Gide gerichteten Aufsatz seines Essaybandes. Es ist um dieses Diktum der schäbige Glanz, der den abgegriffenen Paradoxen von Oscar Wilde schon recht lange eignet, und man könnte es leicht bis zu dessen »Verfall der Lüge« zurückverfolgen.

Man würde damit, einmal, erkennen, wie ungleiche Früchte die Samen aus einem und demselben Leben bisweilen haben. Derselbe Mann, der seinen Ästhetizismus, den verweslichsten Teil seiner Produktion, vom Faschismus rezipiert findet, gab in dem Augenblick, da er der Gesellschaft, die er sein Lebtag amüsiert hat, als ihr Verächter sich gegenüberstellte, dem jungen André Gide ein Leitbild, das sein ferneres Leben bestimmte.8 Man würde sich zweitens Rechenschaft davon geben, wie tief die faschistische Ideologie der Dekadenz und dem Ästhetizismus verpflichtet ist, und warum sie in Frankreich so gut wie in Deutschland oder Italien Pioniere unter den extremen Artisten findet.

Welche Bestimmung hat die Kunst in einer Zivilisation zu erwarten, die auf der Lüge aufgebaut ist? Sie wird deren ungelöste – und unter Beibehaltung der Eigentumsordnung unlösbare – Widersprüche in ihrer engeren Sphäre zum Ausdruck bringen. Der Widerspruch in der faschistischen Kunst ist, nicht anders als der der faschistischen Wirtschaft oder der des faschistischen Staates, ein Widerspruch zwischen Praxis und Theorie. Die faschistische Kunsttheorie trägt die Züge des reinen Ästhetizismus: die Kunst ist nur eine der Masken, hinter denen, wie Maulnier es formuliert, »nichts als die animalische Natur des Menschen, das nackte und von allem entblößte Menschentier des Lukrez« (S. 209) steht. Vorbehalten ist diese Kunst den Wissenden, der Elite, »die Nutznießer der gesamten Zivilisation ist, an der sie«, wie Maulnier sehr lichtvoll sagt, »den Parasiten, den Erben und die nutzlose Blüte darstellt« (S. 211). So sieht die Sache in der Theorie aus. Die faschistische Praxis bietet ein anderes Bild. Die faschistische Kunst ist eine der Propaganda. Ihre Konsumenten sind nicht die Wissenden, sondern ganz im Gegenteil die Düpierten. Es sind ferner zur Zeit nicht die Wenigen, sondern die Vielen oder zumindest sehr Zahlreichen. Es ist danach selbstverständlich, daß die Charakteristika dieser Kunst sich durchaus nicht mit denen decken, die ein dekadenter Ästhetizismus aufweist. Niemals hat die Dekadenz ihr Interesse der monumentalen Kunst zugewendet. Die dekadente Theorie der Kunst mit deren monumentaler Praxis zu verbinden, ist dem Faschismus vorbehalten geblieben. Nichts ist lehrreicher als diese in sich widerspruchsvolle Kreuzung.

Der monumentale Charakter der faschistischen Kunst hängt mit ihrem Massencharakter zusammen. Aber keineswegs unmittelbar. Nicht jede Massenkunst ist eine monumentale Kunst: die der Hebelschen Erzählungen für den Bauernkalender so wenig wie die der Lehárschen Operette. Wenn die faschistische Massenkunst eine monumentale Kunst ist – und das ist sie bis in den literarischen Stil hinein – so hat das eine besondere Bedeutung.

Die faschistische Kunst ist eine Propagandakunst. Sie wird also für Massen exekutiert. Die faschistische Propaganda muß, weiterhin, das ganze gesellschaftliche Leben durchdringen. Die faschistische Kunst wird demnach nicht nur für Massen, sondern auch von Massen exekutiert. Danach läge die Annahme nahe, die Masse habe es in dieser Kunst mit sich selbst zu tun, sie verständige sich mit sich selbst, sie sei Herr im Hause: Herr in ihren Theatern und ihren Stadien, Herr in ihren Filmateliers und in ihren Verlagsanstalten. Jeder weiß, daß das nicht der Fall ist. An diesen Stellen herrscht vielmehr »die Elite«. Und sie wünscht in der Kunst keine Selbstverständigung der Masse. Denn dann müßte diese Kunst eine proletarische Klassenkunst sein, durch die die Wirklichkeit der Lohnarbeit und der Ausbeutung zu ihrem Recht, das heißt auf den Weg ihrer Abschaffung käme. Dabei käme aber die Elite zu Schaden.

Der Faschismus ist also daran interessiert, den funktionalen Charakter der Kunst derart einzuschränken, daß keine verändernde Einwirkung auf die Klassenlage des Proletariats – das den größten Teil der von ihr erreichten und einen kleineren der sie exekutierenden Kader ausmacht – von ihr zu befürchten ist. Diesem kunstpolitischen Interesse dient die »monumentale Gestaltung«. Und zwar tut sie das auf doppelte Art. Erstens schmeichelt sie der bestehenden wirtschaftsfriedlichen Ordnung, indem sie sie ihren »Ewigkeitszügen« nach, das heißt als unüberwindlich darstellt. Das Dritte Reich rechnet nach Jahrtausenden. – Zweitens versetzt sie die Exekutierenden ebenso wie die Rezipierenden in einen Bann, unter dem sie sich selber monumental, das heißt unfähig zu wohlüberlegten und selbständigen Aktionen erscheinen müssen.9 Die Kunst verstärkt so die suggestiven Energien ihrer Wirkung auf Kosten der intellektuellen und aufklärenden. Die Verewigung der bestehenden Verhältnisse vollzieht sich in der faschistischen Kunst durch die Lähmung der (exekutierenden oder rezipierenden) Menschen, welche diese Verhältnisse ändern könnten. Mit der Haltung, die der Bann ihnen aufzwingt, kommen, so lehrt der Faschismus, die Massen überhaupt erst zu ihrem Ausdruck.

Das Material, aus dem der Faschismus seine Monumente, die er für ehern hält, aufführt, ist vor allem das sogenannte Menschenmaterial. Die Elite verewigt ihre Herrschaft in diesen Monumenten. Und diese Monumente sind es allein, dank deren das Menschenmaterial seine Gestaltung findet. Vor dem Blick der faschistischen Herren, der, wie wir sahen, über Jahrtausende schweift, ist der Unterschied der Sklaven, die aus Blöcken die Pyramiden errichtet haben, und der Massen von Proletariern, die auf den Plätzen und Übungsfeldern vor dem Führer selbst Blöcke bilden, ein verschwindender. Man versteht daher Maulnier gut, wenn er die »Baumeister und Soldaten« als Vertreter der Elite zusammenstellt (besser freilich Gide, wenn er die neuen römischen Monumentalbauten als »architektonischen Journalismus« [Nouvelles Pages, S. 85] durchschaut).

Der Ästhetizismus Maulniers ist, wie angedeutet, kein improvisierter Standpunkt, welchen der Faschismus nur eben in der Debatte kunsthistorischer Fragen bezieht. Der Faschismus ist auf diesen Standpunkt überall da angewiesen, wo er dem Augenschein näher zu treten wünscht, ohne sich mit der Realität einzulassen. Eine Anschauungsweise, die den Funktionswert der Kunst aus dem Wege räumt, wird sich auch sonst empfehlen, wo ein Interesse besteht, den Funktionscharakter einer Erscheinung aus dem Blickfelde zu beseitigen. Das ist, wie sich gerade bei Maulnier erkennen läßt, in hervorragendem Maße bei der Technik der Fall. Der Grund ist leicht einzusehen. Die Entwicklung der Produktivkräfte, unter denen neben dem Proletariat die Technik steht, hat die Krise heraufgeführt, welche auf die Vergesellschaftung der Produktionsmittel drängt. Mit an erster Stelle ist diese Krise demnach eine Funktion der Technik. Wer sie unsachgemäß, gewaltsam, unter Beibehaltung der Privilegien zu lösen gedenkt, der hat viel Interesse daran, den Funktionscharakter der Technik so unkenntlich wie möglich zu machen.

Man kann da zwei Wege einschlagen. Sie führen in entgegengesetzte Richtungen, sind aber von verwandten Ideen bestimmt: nämlich eben ästhetischen. Den einen finden wir bei Georges Duhamel10. Er führt dazu, die Rolle der Maschine im Produktionsprozeß entschlossen beiseite zu lassen und die Kritik an ihr an die verschiedenen Bedenken und Unzuträglichkeiten zu knüpfen, die für den Privatmann mit dem fremden oder eigenen Gebrauch von Maschinen verbunden sind. Duhamel kommt zu einer reservierten Beurteilung des Automobils, zu einer resoluten Ablehnung des Films, zu dem halb spaßhaft, halb ernst gemeinten Vorschlage, es möchten von Staats wegen für fünf Jahre alle Erfindungen untersagt werden. Der Proletarier wendet sich gegen den Unternehmer; der Kleinbürger hat es mit der Maschine. Duhamel ergreift im Namen der Kunst gegen die Maschine Partei. Es versteht sich, daß die Dinge für den Faschismus ein wenig anders liegen. Die großbürgerliche Denkweise seiner Mandanten hat in den Intellektuellen, die sich zu seiner Verfügung hielten, ihre Spur hinterlassen. Einer von ihnen war Marinetti. Er zuerst spürte instinktiv, daß eine »futuristische« Betrachtung der Maschine dem Imperialismus nützt. Marinetti begann als Bruitist, er proklamierte den Lärm (die unproduktive Aktivität der Maschine) als ihre bedeutungsvollste. Er endete als Mitglied der königlichen Akademie, das im äthiopischen Krieg die Erfüllung seiner futuristischen Jugendträume gefunden zu haben gestand.11 Ihm folgt, ohne sich darüber im klaren zu sein, Maulnier, wenn er gegen Gorkis »Neuen Humanismus« erklärt, was den Hauptwert der Entdeckungen in Technik und Wissenschaft ausmache, sei »nicht sowohl ihr Resultat und ihr möglicher Nutzen ... als ... ihr poetischer Wert« (S. 77). »Marinetti«, schreibt Maulnier, »berauschte sich an der Höhe der Maschinen, an ihrer Bewegung, an dem Stahl, an ihrer Präzision, an ihrem Lärm, an ihrer Schnelligkeit – kurz an allem, was an der Maschine als Selbstwert angesehen werden kann und nicht teil an ihrem Werkzeugcharakter hat... Er beschränkte sich und hielt sich mit Absicht an ihre unverwertbare Seite, das heißt an ihre ästhetische.« (S. 84)

Maulnier hält diese Position für so fundiert, daß er kein Bedenken hat, die Sätze, in denen sich Majakowski mit Marinettis Anschauung von der Maschine befaßt, als ein Kuriosum zu zitieren. Majakowski spricht die Sprache des gesunden Menschenverstandes: »Die Ära der Maschine verlangt nicht Hymnen zu ihrem Preis; sie verlangt im Interesse der Menschheit gemeistert zu werden. Der Stahl der Wolkenkratzer verlangt nicht kontemplative Versenkung, sondern entschlossene Verwertung im Wohnungsbau ... Wir werden nicht den Lärm suchen, sondern die Stillen organisieren. Wir Dichter wollen in den Waggons reden können.« (S. 83 f.) Die würdige, weil reservierte und nüchterne Haltung von Majakowski ist unvereinbar mit dem Bestreben, der Technik einen »monumentalen« Aspekt abzugewinnen. Sie legt schlüssiges Zeugnis gegen Maulniers Behauptung ab, der Kollektivismus der Russen habe »den Ingenieur zum geistigen Herrscher« (S. 79) gemacht. Das ist eine technokratische Umdeutung. Sie fälscht die polytechnische Ausbildung des Sowjetbürgers in technokratisch geleitete Fronarbeit um. Und sie ist eine technokratische Umdeutung auch in anderm Sinne: sie liegt gerade dem Technokraten nahe.

Nun wird niemand entschiedener als Maulnier den Vorwurf von sich abweisen, technokratisch zu denken. Diese Denkweise wird ihm vielmehr unvereinbar mit der artistischen scheinen.

Seine Definition der Kunst könnte ihm auf den ersten Blick ein Recht dazu geben. Sie lautet: »Es ist die eigentliche Mission der Kunst, die Gegenstände und die Geschöpfe unbrauchbar zu machen.« (S. 86) Lassen wir es bei dem ersten Blick nicht bewenden. Sehen wir näher zu! Es gibt eine unter den Künsten, welche Maulniers Definition auf besonders exakte Weise Genüge tut. Diese Kunst ist die Kriegskunst. Sie verkörpert die faschistische Kunstidee ebenso durch den monumentalen Einsatz an Menschenmaterial wie durch den von banalen Zwecken gänzlich entbundenen Einsatz der ganzen Technik. Die poetische Seite der Technik, die der Faschist gegen die prosaische ausspielt, von der die Russen ihm zu viel Wesens machen, ist ihre mörderische. So kommt der Sinn des Satzes »Alles was primitiv, spontan, unschuldig ist, ist uns allein darum schon hassenswert« (S. 213) voll zur Geltung.

Dieser Satz findet sich im letzten Abschnitt des Essays, in dem sich Maulnier mit Gide auseinandersetzt. Verdient die Fähigkeit, so verräterische Reaktionen hervorzurufen, nicht Dank? Hat Gide nicht die Idealfigur in sich verkörpert, die er in der Tagebucheintragung vom 28. März 1935 herausruft: den inquiéteur – den Beunruhigung Stiftenden? In der Tat hat er sich zum Sprecher derer gemacht, die den faschistischen Autor wie nichts anderes beunruhigen.

Das sind die Massen, und zwar die lesenden. »Durch die gigantischen Bestrebungen zugunsten aller Stufen des Unterrichts, durch die Beseitigung jeder Barriere zwischen den verschiedenen Bildungsniveaus ..., durch die erstaunlich schnelle Verminderung des Analphabetentums ..., durch den unmittelbaren Appell an die literarische Erfindungsgabe aller, und selbst der Kinder ..., durch all das schenkt Ihr« – so wandte sich Jean Richard Bloch auf dem Pariser Schriftstellerkongreß von 1935 an die Vertreter der Sowjetunion – »dem Schriftsteller ... die wunderbarste Gabe, die er sich erträumt hat: Ihr schenkt ihm ein Publikum von 170 Millionen Lesern.«

Das ist ein Danaergeschenk für den faschistischen Schriftsteller. Der Elite, der Maulnier beispringt, ist ein Kunstgenuß, der nicht von allen Seiten durch das Bildungsmonopol vor störenden Elementen geschützt wäre, eine Undenkbarkeit. Die Abschaffung des Bildungsmonopols an und für sich wäre Maulnier schon beängstigend genug. Und nun sagt ihm Gorki, daß gerade die Kunst an dieser Abschaffung mitzuwirken berufen sei. Er sagt ihm, in der Sowjetliteratur gebe es keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen einem populär-wissenschaftlichen und einem künstlerisch wertvollen Buch. Und Maulnier kann mit diesem, durch die modernsten Vulgarisatoren des westlichen Schrifttums, einen Frank, einen de Greif, einen Eddington, einen Neurath längst demonstrierten Satz nichts Besseres anfangen, als ihn in seine Schilderung der »Barbarei« einzubeziehen, »in deren Dienst sich Gorki gestellt hat« (S. 78).

Maulnier weicht auch hier keinen Finger breit von seinem Gedanken ab, die Kultur als die Summe der Privilegien darzustellen. Vielleicht macht sie in dieser Darstellung keine gute Figur. Aber indem Maulnier die Konfrontation der imperialistischen Kultur mit der sowjetrussischen sucht, muß er das in Kauf nehmen. Er kann es nicht ändern, daß der konsumptive Charakter, den die erstere hat, sich gegen den produktiven der zweiten abhebt. Die angestrengte Betonung des Schöpferischen, die uns aus der Kulturdebatte geläufig ist, hat vor allem die Aufgabe, davon abzulenken, wie wenig das derart »schöpferisch« erzeugte Produkt seinerseits dem Produktionsprozesse zugute kommt, wie ausschließlich es dem Konsum verfällt. Der Imperialismus hat einen Zustand herbeigeführt, in dem das Gedicht, das als »göttlich« gerühmt wird, sich solches Lob von Rechts wegen mit der Mehlspeise teilt.

Maulnier kann auf das »Schöpferische« um keinen Preis verzichten. »Der Mensch«, schreibt er, »fabriziert etwas, um es zu benutzen; aber er schafft, um zu schaffen.« (S. 86) Wie trügerisch die tote und undialektische Trennung von Schaffen und Fabrizieren ist, die der Ästhetik des Schöpferischen zugrunde liegt, erweist die polytechnische Bildung der Sowjets. Diese Bildung ist ebensowohl imstande, den Fabrikarbeiter im Rahmen eines Produktionsplanes, den er übersieht, einer Produktionsgemeinschaft, welche sein Leben trägt, einer Produktionsweise, die er verbessern kann, zu einer schöpferischen Arbeit zu führen, wie sie den Schriftsteller durch die Genauigkeit der Aufgaben, die sie ihm stellt, das heißt durch das bestimmte Publikum, das sie ihm gewährleistet, zu einer Produktion veranlaßt, die dank der Rechenschaft, welche der Verfertiger von seiner Prozedur geben kann, auf den Ehrennamen des Fabrikats Anspruch hat. Und gerade der Schriftsteller sollte sich erinnern, daß das Wort »Text« – vom Gewebten: textum – einmal ein solcher Ehrenname gewesen ist. Die werdende polytechnische Menschenbildung vor Augen, wird er ungerührt von dem Wortführer der Elite bleiben, der ihm erzählt, daß »von der kollektivistischen Gesellschaft jene allzu flüchtigen Augenblicke, in denen der Mensch einem Dasein sich zu entziehen vermag, das wie vor grauen Zeiten fast gänzlich dem Lebensunterhalte gewidmet ist, ... als eine Desertion angesehen werden« (S. 80). Wem verdankte der Mensch es, wenn diese Augenblicke so flüchtig waren? Der Elite. Wer hat ein Interesse, die Arbeit selber menschenwürdig zu machen? Das Proletariat.

Bei seinem Aufbauwerk kann es ohne weiteres auf das verzichten, was Maulnier die »Privilegien der Innerlichkeit« (S. 5) nennt, aber niemals auf den, der diese Privilegien so fühlt und so beschreibt, wie es Gide unterm 8. März 1935 tut: »Heute kommt mir, drückend und tief im Innern, das Gefühl einer Minderwertigkeit zum Bewußtsein: ich habe mir nie mein Brot verdienen müssen; ich habe nie unter dem Druck der Bedürftigkeit gearbeitet. Ich habe die Arbeit allerdings immer so sehr geliebt, daß mein Glück lediglich dadurch nicht beeinträchtigt worden wäre. Auch will ich auf das folgende hinaus. Es wird eine Zeit kommen, wo es als ein Mangel wird angesehen werden, solche Arbeit nicht gekannt zu haben. Die reichste Phantasie kann sie nicht ersetzen; die Unterweisung, die sie erteilt, kann nie wieder eingeholt werden. Eine Zeit kommt herauf, in der sich der Bürger dem einfachen Arbeiter unterlegen fühlt. Für einige ist diese Zeit schon gekommen.« (Nouvelles Pages, S. 164 f.)

Noch beunruhigender als daß es im Osten ein Publikum von 170 Millionen Lesern gibt, ist für Maulnier, daß in Frankreich Schriftsteller leben, die daran denken. André Gide hat sein letztes Buch »Les Nouvelles Nourritures« den jungen Lesern der Sowjetunion gewidmet. Der erste Absatz dieses Buches lautet:

»Du, der du kommen wirst, wenn ich die Geräusche der Erde nicht mehr höre und meine Lippen ihren Tau nicht mehr trinken – du, der du, später, vielleicht mich lesen wirst – für dich schreibe ich diese Seiten; denn vielleicht wird es dich nicht genug erstaunen zu leben; dich wird das betäubende Wunder, das dein Leben ist, nicht nach Gebühr überwältigen. Mir scheint manchmal, das wird mein Durst sein, mit dem du trinken wirst, und was dich über das andere Geschöpf, das du streichelst, dich neigen heißt, sei mein eigenes Begehren, heute.« (Nouvelles Nourritures, S. 9)



  1. André Gide, Nouvelles pages de journal (1932-1935). Paris 1936.
  2. Thierry Maulnier, Mythes socialistes. Paris (1936).
  3. Gide darf heute auf diesen Artikel zurückverweisen. In dem genannten Tagebuchband heißt es: »War Barrès nicht der Apologet einer gewissen Art von Gerechtigkeit, die sich heute als die von Hitler erweist? Und ist es nicht leicht gewesen vorherzusehen, daß diese schönen Theorien im Augenblick, da jemand anders sich ihrer bemächtigen würde, sich gegen uns selbst kehren würden?
  4. Die Debatten sind unter dem Titel »André Gide et notre Temps«, Paris [1935], erschienen.
  5. Das Buch ist in deutscher Übersetzung von Rilke in der Reihe der Inselbücher erschienen.
  6. André Gide, Les nouvelles nourritures. [Paris] (1935).
  7. Vgl. Pierre Drieu La Rochelle, Socialisme fasciste. Paris 1934.
  8. Von der Bedeutung, die Wilde für ihn hatte, zeugt Gides »Nachruf auf Wilde« von 1910.
  9. Bannend wirkt nicht nur die faschistische Stilisierung der Massenkünste (man vergleiche die deutschen Festaufzüge mit den russischen), sondern ebenso der Rahmen der verschiedenen »Gemeinschaften« und »Fronten«, in dem sie sich abspielen.
  10. Georges Duhamel, Scènes de la vie future, Paris 1930, und L'humaniste et l'automate, Paris 1933.
  11. Vgl. Marinettis Manifest zum äthiopischen Krieg.