c. Das Epos als einheitsvolle Totalität
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Wir haben bisher in betreff auf die besonderen Anforderungen an das eigentliche Epos auf der einen Seite von dem allgemeinen Welthintergrunde gesprochen, auf der anderen Seite von der individuellen Begebenheit, die auf diesem Boden vor sich geht, sowie von den unter Leitung der Götter und des Schicksals handelnden Individuen. Diese beiden Hauptmomente nun müssen sich drittens zu ein und demselben epischen Ganzen zusammenschließen, rücksichtlich dessen ich nur folgende Punkte näher berühren will: erstens nämlich die Totalität der Objekte, welche um des Zusammenhanges der besonderen Handlung mit ihrem substantiellen Boden willen zur Darstellung gelangen dürfen; zweitens den von der Lyrik und dramatischen Poesie verschiedenen Charakter der epischen Entfaltungsweise; drittens die konkrete Einheit, zu welcher sich das epische Werk seiner breiten Auseinanderlegung ungeachtet in sich abzurunden hat.
α) Der Inhalt des Epos ist, wie wir sahen, das Ganze einer Welt, in der eine individuelle Handlung geschieht. Hier treten deshalb die mannigfaltigsten Gegenstände ein, die zu den Anschauungen, Taten und Zuständen einer Welt gehören.
αα) Die lyrische Dichtkunst geht zwar zu bestimmten Situationen fort, innerhalb welcher dem lyrischen Subjekte eine große Mannigfaltigkeit des Inhalts in seine Empfindung und Reflexion hineinzuziehen vergönnt bleibt; doch ist es in dieser Gattung immer die Form des Inneren, die den Grundtypus abgibt und schon dadurch die breite Veranschaulichung der äußeren Realität von sich ausschließt. Umgekehrt führt uns das dramatische Kunstwerk die Charaktere und das Geschehen der Handlung selbst in wirklicher Lebendigkeit vor, so daß hier die Schilderung des Lokals, der Außengestalt der handelnden Personen und des Be-gebens als solchen von Hause aus fortfällt und überhaupt mehr die inneren Motive und Zwecke als der breite Weltzusammenhang und die reale Zuständlichkeit der Individuen zur Sprache kommen muß. Im Epos aber gewinnt außer der umfassenden Nationalwirklichkeit, auf welcher die Handlung basiert ist, ebensowohl das Innere als das Äußere Platz, und so legt sich hier die ganze Totalität dessen auseinander, was zur Poesie des menschlichen Daseins zu rechnen ist. Hierher können wir auf der einen Seite die Naturumgebung zählen, und zwar nicht nur etwa als die jedesmalige bestimmte Örtlichkeit, in welcher die Handlung vor sich geht, sondern auch als die Anschauung von dem Ganzen der Natur; wie ich z. B. bereits anführte, daß wir aus der Odyssee kennenlernen, in welcher Weise sich die Griechen zur Zeit des Homer die Form der Erde, des umherfließenden Meeres usf. zur Vorstellung brachten. Aber diese Naturmomente sind nicht der Hauptgegenstand, sondern die bloße Grundlage; denn auf der anderen Seite entfaltet sich als das Wesentlichere die Vorstellung von der gesamten Götterwelt in ihrem Dasein, Wirken, Handeln, und dazwischen drittens tritt das Menschliche als solches in seiner Totalität häuslicher und öffentlicher, friedlicher und kriegerischer Situationen, Sitten, Gebräuche, Charaktere und Begebnisse; und zwar immer nach zwei Richtungen hin, sowohl nach der des individuellen Begebnisses als auch nach der eines allgemeinen Zustandes innerhalb nationeller und sonstiger Wirklichkeit. In bezug auf diesen geistigen Inhalt endlich stellt sich nicht etwa nur das äußere Geschehen dar, sondern gleichmäßig sollen uns auch die inneren Empfindungen, die Zwecke und Absichten, die Darlegung des berechtigten oder unberechtigten individuellen Handelns zum Bewußtsein kommen. Der eigentliche Stoff des Lyrischen und Dramatischen also bleibt gleichfalls nicht aus, obschon im Epischen sich diese Seiten, statt die Grundform für die ganze Darstellung herzugeben, nur als Momente geltend machen und dem Epos seinen eigentümlichen Charakter nicht abstreifen dürfen. Es ist daher nicht als wahrhaft episch anzusehen, wenn die lyrischen Äußerungen, wie dies z. B. bei Ossian der Fall ist, den Ton und die Färbung bestimmen oder wenn sie, wie zum Teil bei Tasso schon und dann vornehmlich bei Milton und Klopstock, sich als diejenige Partie herausheben, in welcher der Dichter das Beste leistete, was er zu liefern vermag; sondern die Empfindungen und Reflexionen müssen, wie das Äußere, gleichfalls als etwas Geschehenes, Gesagtes, Gedachtes berichtet werden und den ruhig fortschreitenden epischen Ton nicht unterbrechen. Der abgerissene Schrei der Empfindung, überhaupt das Sichaussingen der inneren Seele, die nur, um sich darstellig zu machen, zum Ergüsse kommt, hat daher im Epos keinen Spielraum. Nicht minder lehnt die epische Poesie auch die Lebendigkeit des dramatischen Dialogs von sich ab, in welchem die Individuen ihrer unmittelbaren Gegenwart nach ein Gespräch führen und die Hauptrücksicht immer das charakteristische Entgegenreden der Personen bleibt, die einander überzeugen, gebieten, imponieren oder mit der Leidenschaft ihrer Gründe gleichsam umrennen wollen.
ββ) Den eben angeführten vielseitigen Inhalt nun aber zweitens hat uns das Epos nicht in seiner nur für sich selbst daseienden Objektivität vor Augen zu stellen; sondern die Form, durch welche es zum eigentlichen Epos wird, ist, wie ich schon mehrfach sagte, ein individuelles Begebnis. Soll diese in sich begrenzte Handlung mit dem sonst noch hinzutretenden Stoffe in Verbindung bleiben, so muß dieser weitere Kreis in steten Bezug auf das Geschehen der individuellen Begebenheit gebracht sein und darf nicht selbständig aus derselben herausfallen. Für solch ein Ineinanderflechten gibt die Odyssee das schönste Vorbild. Die häuslichen Friedenszustände der Griechen z. B. sowie die Vorstellungen von fremden barbarischen Völkern und Ländern, von dem Reiche der Schatten usf. sind so eng mit der individuellen Irrfahrt des heimkehrenden Odysseus und des nach dem Vater ausreisenden Telemachos verwebt, daß sich keine dieser Seiten abstrakt von dem eigentlichen Begebnis ablöst und sich für sich verselbständigt oder wie der Chor in der Tragödie, der nicht handelt und nur das Allgemeine vor sich hat, träge sich in sich zurückziehen kann, sondern mit in das Fortrücken der Begebenheiten einwirkt. In der ähnlichen Weise erhält auch die Natur und Götterwelt nicht ihrer selbst wegen, sondern im Verhältnis zu der besonderen Handlung, welche zu leiten die Obliegenheit der Götter ist, eine dadurch erst individuelle und lebensreiche Darstellung. In diesem Falle allein kann das Erzählen nirgend als eine bloße Schilderung unabhängiger Gegenstände erscheinen, da es überall das fortlaufende Geschehen der Begebenheit berichtet, welche sich der Dichter zum einigenden Stoffe des Ganzen auserwählt hat. Umgekehrt aber darf das besondere Begebnis seinerseits die substantielle Nationalgrundlage und Totalität, auf der es sich hinbewegt, nicht so sehr in sich hineinnehmen und aufzehren wollen, daß dieselbe sich aller selbständigen Existenz entschlagen und sich als nur dienstbar erweisen müßte. In dieser Hinsicht wäre z. B. der Zug des Alexander gegen den Orient kein guter Stoff für eine echte Epopöe. Denn diese Heldentat beruht ihrem Entschluß wie ihrer Ausführung nach so sehr nur auf ihm als diesem einen Individuum, sein individueller Geist und Charakter ist so sehr ihr alleiniger Träger, daß der nationalen Basis, dem Heer und den Führern desselben, ganz die unabhängige Existenz und Stellung fehlt, die wir oben als notwendig bezeichnet haben.
Alexanders Heer ist sein Volk, schlechthin an ihn und seinen Befehl gebunden, ihm nur untergeben, nicht freiwillig gefolgt; die eigentlich epische Lebendigkeit aber liegt darin, daß beide Hauptseiten, die besondere Handlung mit ihren Individuen und der allgemeine Weltzustand, zwar in steter Vermittlung bleiben, doch in diesem wechselseitigen Verhältnis zugleich die nötige Selbständigkeit bewahren, um sich als eine Existenz geltend zu machen, die auch für sich selber Dasein gewinnt und hat.
γγ) Wenn wir nun schon an den epischen substantiellen Boden überhaupt die Forderung stellten, daß er, um aus sich eine individuelle Handlung entstehen zu lassen, kollisionsvoll sein müsse, und zweitens sahen, daß diese allgemeine Grundlage nicht für sich, sondern nur in Form einer bestimmten Begebenheit und in bezug auf sie zum Vorschein kommen dürfe, so wird in diesem individuellen Begebnisse auch der Ausgangspunkt^ das ganze epische Gedicht zu suchen sein. Dies ist besonders für die Anfangssituationen von Wichtigkeit. Auch hierin können wir die llias und Odyssee als Muster bezeichnen. In ersterer ist der Trojanische Krieg der allgemeine, lebendig mit eintretende Hintergrund, der uns aber nur innerhalb der bestimmten Begebenheit, welche sich an den Zorn des Achilles knüpft, vor Augen kommt, und so beginnt das Gedicht in schönster Klarheit mit den Situationen, welche den Haupthelden zur Leidenschaft gegen Agamemnon aufreizen. In der Odyssee sind es zwei verschiedene Zustände, die den Stoff für den Anfang liefern können: die Irrfahrt des Odysseus und die häuslichen Vorfälle auf Ithaka. Homer rückt sie beide nahe aneinander, indem er zuerst von dem heimkehrenden Helden nur kurz berichtet, daß Kalypso ihn zurückgehalten, und dann sogleich zu Penelopes Leiden und der Fahrt des Telemachos überschreitet. Was die gehinderte Rückkehr möglich und was sie von selten der daheim Zurückgebliebenen notwendig macht, beides überschauen wir mit einem Blicke.
β) Von solch einem Anfange aus hat nun zweitens das epische Werk in einer von dem lyrischen und dramatischen Gedicht ganz verschiedenen Weise fortzuschreiten.
αα)Das Nächste, was in Ansehung hierauf zu berücksichtigen ist, betrifft die Breite, zu welcher das Epos auseinandergeht. Sie findet ihren Grund sowohl im Inhalte desselben als auch in der Form. Die Mannigfaltigkeit der Gegenstände, welche zu einer nach ihren inneren Kräften, Trieben und Verlangen des Geistes wie nach ihrer äußerlichen Situation und Umgebung vollständig entwickelten epischen Welt gehören, haben wir soeben gesehen. Indem nun alle diese Seiten die Form der Objektivität und realen Erscheinung annehmen, bildet sich jede derselben zu einer in sich selbständigen inneren und äußeren Gestalt aus, bei welcher der epische Dichter beschreibend oder darstellend verweilen und ihr erlauben darf, sich in ihrer Äußerlichkeit zu entfalten, während die Lyrik alles, was sie auffaßt, zur Innigkeit der Empfindung konzentriert oder zur zusammenfassenden Allgemeinheit der Reflexion verflüchtigt.
Mit der Objektivität ist unmittelbar das Außereinander und die bunte Fülle mannigfaltiger Züge gegeben. Schon in dieser Rücksicht hat in keiner anderen Gattung das Episodische so sehr ein Recht, sich fast bis zum Scheine ungefesselter Selbständigkeit zu emanzipieren, als im Epos. Die Lust an dem, was da ist, und an der Form der wirklichen Realität darf jedoch, wie ich schon sagte, nicht so weit gehen, auch Zustände und Erscheinungen mit in das Gedicht aufzunehmen, welche in gar keinem Zusammenhange mit der besonderen Handlung oder deren Grundlage stehen, sondern selbst die Episoden müssen sich in betreff auf den Fortgang der Begebenheit, sei es auch als Hemmnis und aufhaltendes Zwischenereignis, wirksam erweisen. Dessenungeachtet kann um der Form der Objektivität willen im Epos die Verbindung der einzelnen Teile nur lockerer Art sein. Denn im Objektiven bleibt die Vermittlung das innere Ansich; was sich dagegen nach außen kehrt, ist die unabhängige Existenz der besonderen Seiten. Dieser Mangel an strenger Einigung und herausgehobener Beziehung der einzelnen Glieder des epischen Gedichtes, das seiner ursprünglichen Gestalt nach außerdem eine frühe Epoche des Entstehens hat, wird dann der Grund, daß es sich einerseits leichter als lyrische und dramatische Werke zu späteren Anfügungen oder Fortlassungen hergibt, während es andererseits selber einzelne, schon vorher bis zu einer gewissen Kunsthöhe ausgestaltete Sagen als besondere Seiten in das neue zusammenfassende Ganze einreiht.
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