c. Der Standpunkt der Bildung, aus welcher das Werk hervorgeht


Ein dritter Punkt endlich, worüber wir noch in Rücksicht auf den allgemeinen Charakter der lyrischen Poesie zu sprechen haben, betrifft die allgemeine Stufe des Bewußtseins und der Bildung, aus welcher das einzelne Gedicht hervorgeht.

Auch in dieser Beziehung nimmt die Lyrik einen der epischen Poesie entgegengesetzten Standpunkt ein. Wenn wir nämlich für die Blütezeit des eigentlichen Epos einen im ganzen noch unentwickelten, zur Prosa der Wirklichkeit noch nicht herangereiften nationalen Zustand forderten, so sind umgekehrt der Lyrik vornehmlich solche Zeiten günstig, die schon eine mehr oder weniger fertig gewordene Ordnung der Lebensverhältnisse herausgestellt haben, indem erst in solchen Tagen der einzelne Mensch sich dieser Außenwelt gegenüber in sich selbst reflektiert und sich aus ihr heraus in seinem Inneren zu einer selbständigen Totalität des Empfindens und Vorstellens abschließt. Denn in der Lyrik ist es eben nicht die objektive Gesamtheit und individuelle Handlung, sondern das Subjekt als Subjekt, was die Form und den Inhalt abgibt. Dies darf jedoch nicht etwa so verstanden werden, als ob das Individuum, um sich lyrisch äußern zu können, sich von allem und jedem Zusammenhange mit nationalen Interessen und Anschauungen losmachen und formell nur auf seine eigenen Füße stellen müsse. Im Gegenteil, in dieser abstrakten Selbständigkeit würde als Inhalt nur die ganz zufällige und partikulare Leidenschaft, die Willkür der Begierde und des Beliebens übrigbleiben und die schlechte Querköpfigkeit der Einfalle und bizarre Originalität der Empfindung ihren unbegrenzten Spielraum gewinnen. Die echte Lyrik hat, wie jede wahre Poesie, den wahren Gehalt der menschlichen Brust auszusprechen. Als lyrischer Inhalt jedoch muß auch das Sachlichste und Substantiellste als subjektiv empfunden, angeschaut, vorgestellt oder gedacht erscheinen. Zweitens ferner handelt es sich hier nicht um das bloße Sichäußern des individuellen Inneren, um das erste unmittelbare Wort, welches episch sagt, was die Sache sei, sondern um den kunstreichen, von der zufälligen, gewöhnlichen Äußerung verschiedenen Ausdruck des poetischen Gemüts. Die Lyrik erheischt deshalb, je mehr gerade die bloße Konzentration des Herzens sich zu vielseitigen Empfindungen und umfassenderen Betrachtungen aufschließt und das Subjekt sich in einer schon prosaisch ausgeprägteren Welt seines poetischen Inneren bewußt wird, nun auch eine erworbene Bildung zur Kunst, welche gleichfalls als der Vorzug und das selbständige Werk der zur Vollendung ausgearbeiteten subjektiven Naturgabe hervortreten muß. Dies sind die Gründe, aus denen die Lyrik nicht auf bestimmte Zeitepochen in der geistigen Entwicklung eines Volks beschränkt bleibt, sondern in den verschiedensten Epochen reichhaltig blühen kann und hauptsächlich der neueren Zeit, in der jedes Individuum sich das Recht erteilt, für sich selbst seine eigentümliche Ansicht und Empfindungsweise zu haben, günstig ist.

Als durchgreifende Unterschiede lassen sich jedoch folgende allgemeinere Standpunkte angeben:

a) erstens die lyrische Äußerungsart der Volkspoesie.

αα) In ihr vornehmlich kommt die mannigfaltige Besonderheit der Nationalitäten zum Vorschein, weshalb man auch in dem universellen Interesse unserer Gegenwart nicht müde wird, Volkslieder jeder Art zu sammeln, um die Eigentümlichkeit aller Völker kennenzulernen, nachzuempfinden und nachzuleben. Schon Herder tat viel hierfür, und auch Goethe hat in selbständigeren Nachbildungen höchst verschiedenartige Produkte dieser Gattung unserer Empfindung anzunähern verstanden. Vollständig aber mitempfinden kann man nur die Lieder seiner eigenen Nation, und wie sehr wir Deutsche uns auch ins Ausland hineinzumachen imstande sind, so ist doch immer die letzte Musik eines nationalen Inneren anderen Völkern etwas Fremdes, das, um in ihnen auch den heimischen Ton der eigenen Empfindung anklingen zu lassen, erst einer umarbeitenden Nachhilfe bedarf. Diese hat Goethe jedoch den ausländischen Volksliedern, die er uns zugebracht, auf die sinnvollste und schönste Weise nur insoweit angedeihen lassen, als dadurch, wie z. B. in dem Klagegesang der edlen Frauen des Asan Aga aus dem Morlacki-schen, die Eigentümlichkeit solcher Gedichte noch durchaus ungefährdet aufbewahrt bleibt.

ββ) Der allgemeine Charakter nun der lyrischen Volkspoesie ist dem des ursprünglichen Epos nach der Seite hin zu vergleichen, daß sich der Dichter als Subjekt nicht heraushebt, sondern sich in seinen Gegenstand hineinverliert. Obschon sich deshalb im Volksliede die konzentrierteste Innigkeit des Gemüts aussprechen kann, so ist es dennoch nicht ein einzelnes Individuum, welches sich darin auch mit seiner subjektiven Eigentümlichkeit künstlerischer Darstellung kenntlich macht, sondern nur eine Volksempfindung, die das Individuum ganz und voll in sich trägt, insofern es für sich selbst noch kein von der Nation und deren Dasein und Interessen abgelöstes inneres Vorstellen und Empfinden hat. Als Voraussetzung für solche ungetrennte Einheit ist ein Zustand notwendig, in welchem die selbständige Reflexion und Bildung noch nicht erwacht ist, so daß nun also der Dichter ein als Subjekt zurücktretendes bloßes Organ wird, vermittels dessen sich das nationale Leben in seiner lyrischen Empfindung und Anschauungsweise äußert. Diese unmittelbare Ursprünglichkeit gibt dem Volksliede allerdings eine reflexionslose Frische kerniger Gedrungenheit und schlagender Wahrheit, die oft von der größten Wirkung ist; aber es erhält dadurch zugleich auch leicht etwas Fragmentarisches, Abgerissenes und einen Mangel an Explikation, der bis zur Unklarheit fortgehen kann. Die Empfindung versteckt sich tief und kann und will nicht zum vollständigen Aussprechen kommen. Außerdem fehlt dem ganzen Standpunkte gemäß, obschon die Form im allgemeinen vollständig lyrischer, d. h. subjektiver Art ist, dennoch, wie gesagt, das Subjekt, das diese Form und deren Inhalt als Eigentum gerade seines Herzens und Geistes und als Produkt seiner Kunstbildung ausspricht.

γγ) Völker, welche es nur zu dergleichen Gedichten und es weder zu einer weiteren Stufe der Lyrik noch zu Epopöen und dramatischen Werken bringen, sind deshalb meist halbrohe, barbarische Nationen von unausgebildeter Wirklichkeit und vorübergehenden Fehden und Schicksalen. Denn machten sie selbst in diesen heroischen Zeiten ein in sich reichhaltiges Ganzes aus, dessen besondere Seiten bereits zu selbständiger und doch zusammenstimmender Realität herausgearbeitet wären und den Boden für in sich konkrete und individuell abgeschlossene Taten abgeben könnten, so würden unter ihnen bei ursprünglicher Poesie auch epische Dichter erstehen. Der Zustand, aus welchem wir solche Lieder als einzige und letzte poetische Ausdrucksweise des nationalen Geistes hervorgehen sehen, beschränkt sich deshalb mehr auf Familienleben, Zusammenhalten in Stämmen, ohne weitere Organisation eines schon zu Heroenstaaten herangereiften Daseins. Kommen Erinnerungen an nationale Taten vor, so sind dies meist Kämpfe gegen fremde Unterdrücker, Raubzüge, Reaktionen der Wildheit gegen Wildheit oder Taten Einzelner gegen Einzelne ein und desselben Volkes, in deren Erzählung sich dann Klage und Wehmut oder ein heller Jubel über vorübergehende Siege freien Lauf läßt. Das zu entwickelter Selbständigkeit nicht entfaltete wirkliche Volksleben ist auf die innere Welt der Empfindung zurückgewiesen, die dann aber ebenso im ganzen unentwickelt bleibt und, wenn sie dadurch auch an Konzentration gewinnt, dennoch nun auch ihrem Inhalte nach häufig roh und barbarisch ist. Ob daher Volkslieder für uns ein poetisches Interesse oder im Gegenteil etwas Zurückschreckendes haben sollen, das hängt von der Art der Situationen und Empfindung ab, welche sie darstellen: denn was der Phantasie des einen Volkes vortrefflich erscheint, kann einem anderen abgeschmackt, grauenhaft und widrig sein. So gibt es z. B. ein Volkslied, das die Geschichte von einer Frau erzählt, die auf Befehl ihres Mannes eingemauert wurde und es durch ihre Bitten nur dahin bringt, daß ihr Löcher für ihre Brüste offen gelassen werden, um ihr Kind zu säugen, und die nun auch noch so lange lebt, bis das Kind die Muttermilch entbehren konnte. Dies ist eine barbarische, greuliche Situation. Ebenso haben Räubereien, Taten der Bravour und bloßen Wildheit Einzelner für sich nichts in sich, womit fremde Völker einer anderweitigen Bildung sympathisieren müßten. Volkslieder sind daher auch häufig das Partikulärste, für dessen Vortrefflichkeit es keinen festen Maßstab mehr gibt, weil sie vom Allgemeinmenschlichen zu weit abliegen. Wenn wir deshalb in neuerer Zeit mit Liedern der Irokesen, Eskimos und anderer wilder Völkerschaften sind bekannt geworden, so ist dadurch für poetischen Genuß der Kreis nicht eben jedesmal erweitert.

β) Indem nun aber die Lyrik das totale Aussprechen des inneren Geistes ist, so kann sie weder bei der Ausdrucksweise noch bei dem Inhalt der wirklichen Volkslieder oder der in dem ähnlichen Tone nachgesungenen späteren Gedichte stehenbleiben.

αα) Einerseits nämlich kommt es, wie wir soeben sahen, wesentlich darauf an, daß sich das in sich zusammengedrängte Gemüt dieser bloßen Konzentration und deren unmittelbarer Anschauung enthebe und zum freien Vorstellen seiner selbst hindurchdringe, was in jenen soeben geschilderten Zuständen nur in unvollkommener Weise der Fall ist; andererseits hat es sich zu einer reichhaltigen Welt der Vorstellungen, Leidenschaften, Zustände, Konflikte auszubreiten, um alles, was die Menschenbrust in sich zu fassen imstande ist, innerlich zu verarbeiten und als Erzeugnis des eigenen Geistes mitzuteilen. Denn die Gesamtheit der lyrischen Poesie muß die Totalität des inneren Lebens, soweit dasselbe in die Poesie einzugehen vermag, poetisch aussprechen und gehört deshalb allen Bildungsstufen des Geistes gemeinsam an.

ββ) Mit dem freien Selbstbewußtsein hängt nun auch zweitens die Freiheit der ihrer selbst gewissen Kunst zusammen. Das Volkslied singt sich gleichsam unmittelbar wie ein Naturlaut aus dem Herzen heraus; die freie Kunst aber ist sich ihrer selbst bewußt, sie verlangt ein Wissen und Wollen dessen, was sie produziert, und bedarf einer Bildung zu diesem Wissen sowie einer zur Vollendung durchgeübten Virtuosität des Hervorbringens. Wenn daher die eigentlich epische Poesie das eigene Bilden und Machen des Dichters verbergen muß oder es dem ganzen Charakter ihrer Entstehungszeit nach noch nicht kann sichtbar werden lassen, so geschieht dies nur deshalb, weil das Epos es mit dem objektiven, nicht aus dem dichtenden Subjekt hervorgegangenen Dasein der Nation zu tun hat, das daher auch in der Poesie nicht als subjektives, sondern als für sich selbständig sich entwickelndes Produkt erscheinen muß. In der Lyrik dagegen ist das Schaffen wie der Inhalt das Subjektive und hat sich deshalb auch als das, was es ist, kundzugeben.

γγ) In dieser Rücksicht scheidet sich die spätere lyrische Kunstpoesie ausdrücklich von dem Volksliede ab. Es gibt zwar auch Volkslieder, welche gleichzeitig mit den Werken eigentlich künstlerischer Lyrik entstehen; sie gehören sodann aber solchen Kreisen und Individuen an, die, statt jener Kunstbildung teilhaftig zu werden, sich in ihrer ganzen Anschauungsweise von dem unmittelbaren Volkssinne noch nicht losgelöst haben. Dieser Unterschied zwischen lyrischer Volks- und Kunstpoesie ist jedoch nicht so zu nehmen, als gewinne die Lyrik erst dann ihren Gipfelpunkt, wenn die Reflexion und der Kunstverstand im Verein mit selbstbewußter Geschicklichkeit in blendender Eleganz an ihr als die wesentlichsten Elemente zum Vorschein kämen. Dies würde nichts anderes heißen, als daß wir Horaz z. B. und die römischen Lyriker überhaupt zu den vorzüglichsten Dichtern dieser Gattung rechnen müßten oder auch, in ihrem Kreise, die Meistersänger etwa der vorangehenden Epoche des eigentlichen Minnegesangs vorzuziehen hätten. In diesem Extreme aber darf jener Satz nicht aufgefaßt werden, sondern er ist nur in dem Sinne richtig, daß die subjektive Phantasie und Kunst eben um der selbständigen Subjektivität willen, die ihr Prinzip ausmacht, für ihre wahre Vollendung auch das freie ausgebildete Selbstbewußtsein des Vorstellens wie der künstlerischen Tätigkeit zur Voraussetzung und Grundlage haben müsse.

γ) Eine letzte Stufe endlich können wir von den bisher angedeuteten in folgender Weise unterscheiden. Das Volkslied liegt noch vor der eigentlichen Ausbildung einer auch prosaischen Gegenwart und Wirklichkeit des Bewußtseins; die lyrische echte Kunstpoesie dagegen entreißt sich dieser bereits vorhandenen Prosa und schafft aus der subjektiv selbständig gewordenen Phantasie eine neue poetische Welt der inneren Betrachtung und Empfindung, durch welche sie sich erst den wahren Inhalt und die wahre Ausdrucksweise des menschlichen Innern lebendig erzeugt. Drittens aber gibt es auch eine Form des Geistes, die wiederum nach einer Seite hin höher steht als die Phantasie des Gemüts und der Anschauung, insofern sie ihren Inhalt in durchgreifenderer Allgemeinheit und notwendigerem Zusammenhange zum freien Selbstbewußtsein zu bringen vermag, als dies der Kunst überhaupt möglich wird. Ich meine das philosophische Denken. Umgekehrt jedoch ist diese Form andererseits mit der Abstraktion behaftet, sich nur in dem Elemente des Denkens als der bloß ideellen Allgemeinheit zu entwickeln, so daß der konkrete Mensch sich nun auch gedrungen finden kann, den Inhalt und die Resultate seines philosophischen Bewußtseins in konkreter Weise, als durchdrungen von Gemüt und Anschauung, Phantasie und Empfindung, auszusprechen, um darin einen totalen Ausdruck des ganzen Inneren zu haben und zu geben.

Auf diesem Standpunkte lassen sich vornehmlich zwei verschiedene Auffassungsweisen geltend machen. Einesteils nämlich kann es die Phantasie sein, welche über sich selbst hinaus den Bewegungen des Denkens entgegenstrebt, ohne doch zur Klarheit und festen Gemessenheit philosophischer Expositionen hindurchzudringen. Dann wird die Lyrik meist der Erguß einer in sich kämpfenden und ringenden Seele, die in ihrem Gären sowohl der Kunst als dem Denken Gewalt antut, indem sie das eine Gebiet überschreitet, ohne in dem anderen zu Hause zu sein oder heimisch werden zu können. Anderenteils aber ist auch das in sich als Denken beruhigte Philosophieren imstande, seine klar gefaßten und systematisch durchgeführten Gedanken mit Empfindung zu beseelen, durch Anschauung zu versinnlichen und den wissenschaftlich in seiner Notwendigkeit offenbaren Gang und Zusammenhang, wie dies z. B. Schiller in manchen Gedichten tut, gegen jenes freie Spiel der besonderen Seiten einzutauschen, unter dessen Scheine der Ungebundenheit die Kunst hier ihre inneren Einigungen um so mehr zu verbergen suchen muß, je weniger sie in den nüchternen Ton didaktischer Auseinandersetzung verfallen will.


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