c. Die romantische Lyrik


Wie in die epische Poesie kommt deshalb auch in die Lyrik ein ursprünglicher Gehalt und Geist erst durch das Auftreten neuer Nationen hinein. Dies ist bei den germanischen, romanischen und slawischen Völkerschaften der Fall, welche bereits in ihrer heidnischen Vorzeit, hauptsächlich aber nach ihrer Bekehrung zum Christentume, sowohl im Mittelalter als auch in den letzten Jahrhunderten, eine dritte Hauptrichtung der Lyrik im allgemeinen Charakter der romantischen Kunstform immer mannigfacher und reichhaltiger ausbilden.

 In diesem dritten Kreise wird die lyrische Poesie von so überwiegender Wichtigkeit, daß ihr Prinzip sich zunächst besonders in Rücksicht auf das Epos, dann aber in einer späteren Entwicklung auch in betreff auf das Drama in einer viel tieferen Weise, als es bei den Griechen und Römern möglich war, geltend macht, ja bei einigen Völkern sogar die eigentlich epischen Elemente ganz im Typus der erzählenden Lyrik behandelt und dadurch Produkte hervorbringt, bei denen es zweifelhaft scheinen kann, ob sie zur einen oder anderen Gattung zu rechnen seien. Dieses Herüberneigen zur lyrischen Auffassung findet seinen wesentlichen Grund darin, daß sich das gesamte Leben dieser Nationen aus dem Prinzip der Subjektivität entwickelt, die das Substantielle und Objektive als das Ihrige aus sich hervorzubringen und zu gestalten gedrungen ist und sich dieser subjektiven Vertiefung in sich mehr und mehr bewußt wird. Am ungetrübtesten und vollständigsten bleibt dies Prinzip bei den germanischen Stämmen wirksam, während sich die slawischen umgekehrt aus der orientalischen Versenkung in das Substantielle und Allgemeine erst herauszuringen haben. In der Mitte stehen die romanischen Völker, welche in den eroberten Provinzen des römischen Reiches nicht nur die Reste römischer Kenntnisse und Bildung überhaupt, sondern nach allen Seiten hin ausgearbeitete Zustände und Verhältnisse vor sich finden und, indem sie sich damit verschmelzen, einen Teil ihrer ursprünglichen Natur dahingehen müssen. - Was den Inhalt angeht, so sind es fast alle Entwicklungsstufen des nationalen und individuellen Daseins, welche sich in bezug auf die Religion und das Weltleben dieser zu immer größerem Reichtum aufgeschlossenen Völker und Jahrhunderte im Reflex des Inneren als subjektive Zustände und Situationen aussprechen. Der Form nach macht teils der Ausdruck des zur Innigkeit konzentrierten Gemüts - sei es nun, daß sich dasselbe in nationale und sonstige Begebnisse, in die Natur und äußere Umgebung hineinlege oder rein mit sich selber beschäftigt bleibe -, teils die in sich und ihre erweiterte Bildung sich subjektiv vertiefende Reflexion den Grundtypus aus. Im Äußeren verwandelt sich die Plastik der rhythmischen Versifikation zur Musik der Alliteration, Assonanz und mannigfachsten Reimverschlingungen und benutzt diese neuen Elemente einerseits höchst einfach und anspruchslos, andererseits mit vieler Kunst und Erfindung festausgeprägter Formen, während auch der äußere Vortrag die eigentlich musikalische Begleitung des melodischen Gesangs und der Instrumente immer vollständiger ausbildet.

In der Einteilung endlich dieser umfassenden Gruppe können wir im wesentlichen dem Gange folgen, den ich schon in Ansehung der epischen Poesie angegeben habe.

Auf der einen Seite steht demnach die Lyrik der neuen Völker in ihrer noch heidnischen Ursprünglichkeit.

Zweitens breitet sich reichhaltiger die Lyrik des christlichen Mittelalters aus.

Drittens endlich ist es teils das wiederauflebende Studium der alten Kunst, teils das moderne Prinzip des Protestantismus, das von wesentlicher Einwirkung wird.

 Auf eine nähere Charakteristik jedoch dieser Hauptstadien kann ich mich für diesmal nicht einlassen und will mich nur darauf beschränken, zum Schluß noch einen deutschen Dichter herauszuheben, von dem aus unsere vaterländische Lyrik in neuerer Zeit wieder einen großartigen Aufschwung genommen hat und dessen Verdienste die Gegenwart zuwenig würdigt: ich meine den Sänger der Messiade. Klopstock ist einer der großen Deutschen, welche die neue Kunstepoche in ihrem Volke haben beginnen helfen; eine große Gestalt, welche die Poesie aus der enormen Unbedeutendheit der Gottschedischen Epoche, die, was in dem deutschen Geiste noch Edles und Würdiges war, mit eigener steifster Flachheit vollends verkahlt hatte, in mutiger Begeisterung und innerem Stolze herausriß und voll von der Heiligkeit des poetischen Berufs in gediegener, wenn auch herber Form Gedichte lieferte, von denen ein großer Teil bleibend klassisch ist. - Seine Jugendoden sind teils einer edlen Freundschaft gewidmet, die ihm etwas Hohes, Festes, Ehrenhaftes, der Stolz seiner Seele, ein Tempel des Geistes war; teils einer Liebe voll Tiefe und Empfindung, obschon gerade zu diesem Felde viele Produkte gehören, die für völlig prosaisch zu halten sind: wie z. B. »Selmar und Selma«, ein trübseliger, langweiliger Wettstreit zwischen Liebenden, der sich nicht ohne viel Weinen, Wehmut, leere Sehnsucht und unnütze melancholische Empfindung um den müßigen, leblosen Gedanken dreht, ob Selmar oder Selma zuerst sterben werde. - Vornehmlich aber tritt in Klopstock in den verschiedensten Beziehungen das Vaterlandsgefühl hervor. Als Protestanten konnten ihm die christliche Mythologie, die Heiligenlegenden usf. (etwa die Engel ausgenommen, vor denen er einen großen poetischen Respekt hatte, obschon sie in einer Poesie der lebendigen Wirklichkeit abstrakt und tot bleiben) weder für den sittlichen Ernst der Kunst noch für die Kräftigkeit des Lebens und eines nicht bloß weh- und demütigen, sondern sich selbst fühlenden, positiv frommen Geistes genügen. Als Dichter aber drängte sich ihm das Bedürfnis einer Mythologie, und zwar einer heimischen, auf, deren Namen und Gestaltungen für die Phantasie schon als ein fester Boden vorhanden wären. Dies Vaterländische geht für uns den griechischen Göttern ab, und so hat denn Klopstock, aus Nationalstolz kann man sagen, die alte Mythologie von Wodan, Hertha usf. wieder aufzufrischen den Versuch gemacht. Zu objektiver Wirkung und Gültigkeit jedoch vermochte er es mit diesen Götternamen, die zwar germanisch gewesen, aber nicht mehr sind, so wenig zu bringen, als die Reichsversammlung in Regensburg das Ideal unserer heutigen politischen Existenz sein könnte. Wie groß daher auch das Bedürfnis war, eine allgemeine Volksmythologie, die Wahrheit der Natur und des Geistes in nationaler Gestaltung poetisch und wirklich vor sich zu haben, sosehr blieben jene versunkenen Götter doch nur eine völlig unwahre Hohlheit, und es lag eine Art läppischer Heuchelei in der Prätention, zu tun, als ob es der Vernunft und dem nationalen Glauben Ernst damit sein sollte. Für die bloße Phantasie aber sind die Gestalten der griechischen Mythologie unendlich lieblicher, heiterer, menschlich-freier und mannigfacher ausgebildet. Im Lyrischen jedoch ist es der Sänger, der sich darstellt, und diesen müssen wir in Klopstock um jenes vaterländischen Bedürfnisses und Versuches willen ehren, eines Versuches, der wirksam genug war, noch späte Früchte zu tragen und auch im Poetischen die gelehrte Richtung auf die ähnlichen Gegenstände hinzulenken. - Ganz rein, schön und wirkungsreich endlich tritt Klopstocks vaterländisches Gefühl in seiner Begeisterung für die Ehre und Würde der deutschen Sprache und alter deutscher historischer Gestalten hervor, Hermanns z. B. und vornehmlich einiger deutscher Kaiser, die sich selbst durch Dichterkunst geehrt haben. So belebte sich in ihm immer berechtigter der Stolz der deutschen Muse und ihr wachsender Mut, sich im frohen Selbstbewußtsein ihrer Kraft mit den Griechen, Römern und Engländern zu messen. Ebenso gegenwärtig und patriotisch ist die Richtung seines Blicks auf Deutschlands Fürsten, auf die Hoffnungen, die ihr Charakter in Rücksicht auf die allgemeine Ehre, auf Kunst und Wissenschaft, öffentliche Angelegenheiten und große geistige Zwecke erwecken könnte. Einesteils drückte er Verachtung aus gegen diese unsere Fürsten, die »im sanften Stuhl, vom Höfling rings umräuchert, jetzt unberühmt und einst noch unberühmter« sein würden, anderenteils seinen Schmerz, daß selbst Friedrich II.

 

Nicht sah, daß Deutschlands Dichtkunst sich schnell erhob,

Aus fester Wurzel daurendem Stamm, und weit

Der Äste Schatten warf! -

 

Und ebenso schmerzlich sind ihm die vergeblichen Hoffnungen, die ihn in Kaiser Joseph den Aufgang einer neuen Welt des Geistes und der Dichtkunst erblicken ließen. Endlich macht dem Herzen des Greisen

nicht weniger die Teilnahme an der Erscheinung Ehre, daß ein Volk die Ketten aller Art zerbrach, tausendjähriges Unrecht mit Füßen trat und zum ersten Male auf Vernunft und Recht sein politisches Leben gründen wollte. Er begrüßt diese neue

 

Labende, selbst nicht geträumte Sonne.

Gesegnet sei mir du, das mein Haupt bedeckt,

Mein graues Haar, die Kraft, die nach sechzigen

Fortdauert; denn sie wars, so weit hin

Brachte sie mich, daß ich dies erlebte!

 

Ja, er redet sogar die Franzosen mit den Worten an:

 

Verzeiht, o Franken (Name der Brüder ist

Der edle Name), daß ich den Deutschen einst

Zurufte, das zu fliehn, warum ich

Ihnen itzt flehe, euch nachzuahmen.*)

 

Ein um so schärferer Grimm aber befiel den Dichter, als dieser schöne Morgen der Freiheit sich in einen greuelvollen, blutigen, freiheitsmorden-den Tag verwandelte. Diesen Schmerz jedoch vermochte Klopstock nicht dichterisch zu bilden und sprach ihn um so prosaischer, haltungsloser und fassungsloser aus, als er seiner getäuschten Hoffnung nichts Höheres entgegenzusetzen wußte, da seinem Gemüte keine reichere Vernunftforderung in der Wirklichkeit erschienen war.

In dieser Weise steht Klopstock groß im Sinne der Nation, der Freiheit, Freundschaft, Liebe und protestantischen Festigkeit da, verehrungswert in seinem Adel der Seele und Poesie, in seinem Streben und Vollbringen, und wenn er auch nach manchen Seiten hin in der Beschränktheit seiner Zeit befangen blieb und viele bloß kritische, grammatische und metrische, kalte Oden gedichtet hat, so ist doch seitdem, Schiller ausgenommen, keine in ernster männlicher Gesinnung so unabhängige edle Gestalt wieder aufgetreten.

Dagegen aber haben Schiller und Goethe nicht bloß als solche Sänger ihrer Zeit, sondern als umfassendere Dichter gelebt, und besonders sind Goethes Lieder das Vortrefflichste, Tiefste und Wirkungsvollste, was wir Deutsche aus neuerer Zeit besitzen, weil sie ganz ihm und seinem Volke angehören und, wie sie auf heimischem Boden erwachsen sind, dem Grundton unseres Geistes nun auch vollständig entsprechen.

 

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*) »Die Etats Generaux«

 


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