a. Das Lesen und Vorlesen dramatischer Werke


Das eigentlich sinnliche Material der dramatischen Poesie ist, wie wir sahen, nicht nur die menschliche Stimme und das gesprochene Wort, sondern der ganze Mensch, der nicht nur Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken äußert, sondern, in eine konkrete Handlung verflochten, seinem totalen Dasein nach auf die Vorstellungen, Vorsätze, das Tun und Benehmen anderer wirkt und ähnliche Rückwirkungen erfährt oder sich dagegen behauptet.

α) Dieser Bestimmung gegenüber, welche in dem Wesen der dramatischen Poesie selbst begründet ist, gehört es Jetzigerzeit besonders bei uns Deutschen zu unseren geläufigen Ansichten, die Organisation eines Dramas für die Aufführung als eine unwesentliche Zugabe zu betrachten, obschon eigentlich alle dramatischen Autoren, wenn sie auch gleichgültig oder verächtlich dagegen tun, den Wunsch und die Hoffnung hegen, ihr Werk in Szene zu setzen. So kriegt denn auch die größte Anzahl unserer neueren Dramen nie eine Bühne aus dem ganz einfachen Grunde zu sehen, weil sie undramatisch sind. Nun darf freilich nicht behauptet werden, daß ein dramatisches Produkt nicht schon durch seinen inneren Wert poetisch genügen könne, aber diesen inneren dramatischen Wert gibt wesentlich erst eine Behandlung, durch welche ein Drama vortrefflich für die Aufführung wird. Den besten Beleg hierfür liefern die griechischen Tragödien, die wir zwar nicht mehr auf dem Theater vor uns sehen, welche uns aber, betrachten wir die Sache genauer, zum Teil deshalb gerade vollständige Befriedigung gewähren, weil sie zu ihrer Zeit schlechthin für die Bühne gearbeitet waren. Was sie von dem jetzigen Theater verbannt, liegt aber weniger in ihrer dramatischen Organisation, welche sich von der bei uns gewöhnlichen hauptsächlich durch den Gebrauch der Chöre abscheidet, als vielmehr in den nationalen Voraussetzungen und Verhältnissen, auf denen sie häufig ihrem Inhalte nach gebaut sind und in welchen wir uns ihrer Fremdheit wegen mit unserem heutigen Bewußtsein nicht mehr heimisch fühlen können. Die Krankheit des Philoktet z. B., die stinkenden Geschwüre an seinem Fuße, sein Ächzen und Schreien würden wir ebensowenig sehen und hören mögen, als uns die Pfeile des Herkules, um welche es sich vornehmlich handelt, ein Interesse einflößen könnten. In der ähnlichen Weise lassen wir uns die Barbarei des Menschenopfers in der Iphigenia in Aulis und Tauris wohl in der Oper gefallen, in der Tragödie dagegen müßte für uns diese Seite, wie es Goethe getan hat, durchaus anders gewendet werden.

β) Die Verschiedenheit aber unserer Gewohnheit, teils nur selber zu lesen, teils ein Werk lebendig als Totalität exekutiert zu sehen, hat zu dem weiteren Abwege geführt, daß die Dichter selber ihr Werk nun auch zum Teil nur für das Lesen in der Meinung bestimmen, dieser Umstand übe auf die Natur der Komposition keinen Einfluß aus. Es gibt allerdings in dieser Rücksicht einzelne Seiten, welche nur das Äußerliche angehen, das in der sogenannten Bühnenkenntnis begriffen ist und dessen Verletzung ein dramatisches Werk, poetisch genommen, in seinem Werte nicht verringert. Hierher gehört z. B. die Berechnung, eine Szene so zurechtzulegen, daß eine andere, welche große Zurüstungen in der Szenerie erfordert, bequem darauf folgen kann oder daß dem Schauspieler Zeit zu der nötigen Umkleidung oder Erholung bleibt usf. Dergleichen Kenntnisse und Geschicklichkeiten geben keinen poetischen Vorzug oder Nachteil und hängen mehr oder weniger von den selber wechselnden und konventionellen Einrichtungen des Theaters ab. Umgekehrt aber gibt es andere Punkte, in bezug auf welche der Dichter, um wahrhaft dramatisch zu werden, wesentlich die lebendige Aufführung vor Augen haben und seine Charaktere im Sinne derselben, d. h. im Sinne einer wirklichen und gegenwärtigen Aktion sprechen und handeln lassen muß. Nach diesen Seiten ist die theatralische Exekution ein wirklicher Prüfstein. Denn vor dem obersten Gerichtshofe eines gesunden oder kunstreifen Publikums halten die bloßen Reden und Tiraden sogenannter schöner Diktion, geht ihnen die dramatische Wahrheit ab, nicht aus. Epochenweise kann zwar auch das Publikum durch die so hoch gepriesene Bildung, d. h. durch das Sich-in-den-Kopf-Setzen der schiefen Meinungen und Marotten der Kenner und Kritiker, verdorben werden; hat es aber noch irgend echten Sinn in sich, so ist es nur dann befriedigt, wenn die Charaktere sich so äußern und handeln, wie die lebendige Wirklichkeit sowohl der Natur als auch der Kunst es erheischt und mit sich bringt. Wenn dagegen der Dichter nur für einen einsamen Leser schreiben will, so kann er leicht dahin kommen, seine Figuren so reden und sich benehmen zu lassen, wie es uns etwa bei Briefen ergeht.

Schreibt uns irgendwer die Gründe für seine Vorsätze und Taten, gibt er uns Versicherungen oder schließt er sonst sein Herz vor uns auf, so treten für das, was wir darauf sagen wollen oder nicht, zwischen den Empfang des Briefes und unsere wirkliche Antwort vielfache Überlegungen und Vorstellungen ein. Denn die Vorstellung umfaßt ein weites Feld der Möglichkeiten. In der gegenwärtigen Rede und Gegenrede aber gilt die Voraussetzung, daß im Menschen sein Wille und Herz, seine Regung und Entschließung direkter Art sei, daß überhaupt ohne jenen Umweg weitläufiger Überlegungen mit dem unmittelbaren Gemüt Äug zu Auge, Mund zu Mund, Ohr zu Ohr aufgenommen und erwidert werde. Dann nämlich entspringen die Handlungen und Reden in jeder Situation lebendig aus dem Charakter als solchem, der nicht mehr die Zeit zur Auswahl aus den vielen verschiedenartigen Möglichkeiten übrigbehält. - Nach dieser Seite hin ist es nicht unwichtig für den Dichter und seine Komposition, auf die Bühne, welche solch eine dramatische Lebendigkeit erforderlich macht, sein Augenmerk zu richten; ja, meiner Meinung nach sollte eigentlich kein Schauspiel gedruckt werden, sondern, ungefähr wie bei den Alten, als Manuskript dem Bühnenrepertoire anheimfallen und nur eine höchst unbedeutende Zirkulation erhalten. Wir würden dann wenigstens nicht so viele Dramen erscheinen sehen, die wohl eine gebildete Sprache, schöne Empfindungen, vortreffliche Reflexionen und tiefe Gedanken haben, denen es aber gerade an dem gebricht, was das Drama dramatisch macht, nämlich an der Handlung und deren bewegter Lebendigkeit.

γ) Bei dem Lesen und Vorlesen nun dramatischer Werke läßt es sich schwer entscheiden, ob sie der Art sind, daß sie auch von der Bühne herab ihre Wirkung nicht verfehlen. Selbst Goethe, dem doch in späteren Jahren eine große Theatererfahrung zur Seite stand, war in diesem Punkte sehr unsicher, besonders bei der ungeheuren Verwirrung unseres Geschmacks, der sich das Heterogenste gefallen läßt. Ist der Charakter und Zweck der handelnden Personen für sich selbst groß und substantiell, so wird allerdings das Auffassen leichter; aber die Bewegung der Interessen, der Stufengang in der Handlung, die Spannung und Verwicklung der Situationen, das rechte Maß, in welchem die Charaktere aufeinander wirken, die Würdigkeit und Wahrheit ihres Benehmens und Redens - hierüber läßt sich ohne eine Theateraufführung beim bloßen Lesen schwer ein festes Urteil fällen. Auch das Vorlesen bietet nur eine relative Hilfe. Denn die Rede verlangt im Drama unterschiedene Individuen und nicht nur einenTon, mag derselbe auch noch so künstlich nuanciert und verändert werden. Außerdem stört beim Vorlesen immer die Verlegenheit, ob jedesmal die sprechenden Personen genannt werden sollen oder nicht, was beides seine Übelstände hat. Bleibt der Vortrag eintöniger, so gehört das Nennen der Namen unumgänglich zur Verständlichkeit, dem Ausdruck des Pathos aber wird immer Gewalt angetan; ist der Vortrag dagegen dramatisch lebendiger, so daß er uns ganz in die wirkliche Situation hineinführt, so kann leicht wieder ein neuer Widerspruch hervorgerufen werden. Mit der Befriedigung des Ohrs macht nämlich auch das Auge sogleich seine Forderungen. Hören wir einer Handlung zu, so wollen wir auch die handelnden Personen, ihre Gebärde, Umgebung usf. sehen, das Auge will eine Vollständigkeit und hat nun nichts vor sich als einen Vorleser, der mitten in einer Privatgesellschaft sitzt oder ruhig dasteht. So ist das Vorlesen immer nur ein unbefriedigendes Mittelding zwischen dem anspruchslosen eigenen Lesen, bei welchem die reale Seite ganz fortfällt und der Phantasie überlassen bleibt, und der totalen Exekution.


 © textlog.de 2004 • 19.03.2024 09:15:24 •
Seite zuletzt aktualisiert: 14.09.2004 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright