a. Der epische allgemeine Weltzustand

 

Wir haben gleich anfangs gesehen, daß sich in dem wahrhaft epischen Begebnis nicht eine einzelne willkürliche Tat vollbringe und somit ein bloß zufälliges Geschehen erzählt werde, sondern eine in die Totalität ihrer Zeit und nationalen Zustände verzweigte Handlung, welche deshalb nun auch nur innerhalb einer ausgebreiteten Welt zur Anschauung gelangen kann und die Darstellung dieser gesamten Wirklichkeit fordert. - In Rücksicht auf die echt poetische Gestalt dieses allgemeinen Bodens kann ich mich kurz fassen, insofern ich die Hauptpunkte bereits im ersten Teile bei Gelegenheit des allgemeinen Weltzustandes für die ideale Handlung berührt habe (Bd. l, S. 235-257). Ich will daher an dieser Stelle nur das anführen, was für das Epos von Wichtigkeit ist.

α) Das Passendste für den ganzen Lebenszustand, den das Epos zum Hintergrunde macht, besteht darin, daß derselbe für die Individuen bereits die Form vorhandener Wirklichkeit hat, doch mit ihnen noch in dem engsten Zusammenhange ursprünglicher Lebendigkeit bleibt. Denn sollen die Helden, welche an die Spitze gestellt sind, erst einen Gesamtzustand gründen, so fällt die Bestimmung dessen, was da ist oder zur Existenz kommen soll, mehr als es dem Epos geziemt in den subjektiven Charakter, ohne als objektive Realität erscheinen zu können.

αα) Die Verhältnisse des sittlichen Lebens, der Zusammenhalt der Familie sowie des Volkes als ganzer Nation in Krieg und Frieden müssen sich eingefunden, gemacht und entwickelt haben, umgekehrt aber noch nicht zu der Form allgemeiner, auch ohne die lebendige subjektive Besonderheit der Individuen für sich gültiger Satzungen, Pflichten und Gesetze gediehen sein, welche sich auch gegen das individuelle Wollen festzuhalten die Kraft besitzen. Der Sinn des Rechts und der Billigkeit, die Sitte, das Gemüt, der Charakter muß im Gegenteil als ihr alleiniger Ursprung und ihre Stütze erscheinen, so daß noch kein Verstand sie in Form prosaischer Wirklichkeit dem Herzen, der individuellen Gesinnung und Leidenschaft gegenüberzustellen und zu befestigen vermag. Einen schon zu organisierter Verfassung herausgebildeten Staatszustand mit ausgearbeiteten Gesetzen, durchgreifender Gerichtsbarkeit, wohleingerichteter Administration, Ministerien, Staatskanzleien, Polizei usf. haben wir als Boden einer echt epischen Handlung von der Hand zu weisen. Die Verhältnisse objektiver Sittlichkeit müssen wohl schon gewollt sein und sich verwirklichen, aber nur durch die handelnden Individuen selbst und deren Charakter, nicht aber sonst schon in allgemein geltender und für sich berechtigter Form ihr Dasein erhalten können. So finden wir im Epos zwar die substantielle Gemeinsamkeit des objektiven Lebens und Handelns, ebenso aber die Freiheit in diesem Handeln und Leben, das ganz aus dem subjektiven Willen der Individuen hervorzugehen scheint,

ββ) Dasselbe gilt für die Beziehung des Menschen auf die ihn umgebende Natur, aus welcher er sich die Mittel zur Befriedigung seiner Bedürfnisse nimmt, sowie für die Art dieser Befriedigung. Auch in dieser Rücksicht muß ich auf das zurückweisen, was ich früher bereits bei Gelegenheit der äußeren Bestimmtheit des Ideals weitläufiger ausgeführt habe (Bd. l, S. 333-341). Was der Mensch zum äußeren Leben gebraucht, Haus und Hof, Gezelt, Sessel, Bett, Schwert und Lanze, das Schiff, mit dem er das Meer durchfurcht, der Wagen, der ihn zum Kampf führt, Sieden und Braten, Schlachten, Speisen und Trinken: es darf ihm nichts von allem diesen nur ein totes Mittel geworden sein, sondern er muß sich noch mit ganzem Sinn und Selbst darin lebendig fühlen und dadurch dem an sich Äußerlichen durch den engen Zusammenhang mit dem menschlichen Individuum ein selber menschlich beseeltes individuelles Gepräge geben. Unser heutiges Maschinen- und Fabrikenwesen mit den Produkten, die aus demselben hervorgehen, sowie überhaupt die Art, unsere äußeren Lebensbedürfnisse zu befriedigen, würde nach dieser Seite hin ganz ebenso als die moderne Staatsorganisation dem Lebenshintergrunde unangemessen sein, welchen das ursprüngliche Epos erheischt. Denn wie der Verstand mit seinen Allgemeinheiten und deren von der individuellen Gesinnung unabhängig sich durchsetzenden Herrschaft in den Zuständen der eigentlich epischen Weltanschauung sich noch nicht muß geltend gemacht haben, so darf hier auch der Mensch noch nicht von dem lebendigen Zusammenhange mit der Natur und der kräftigen und frischen, teils befreundeten, teils kämpfenden Gemeinschaft mit ihr losgelöst erscheinen.

γγ) Dies ist der Weltzustand, den ich, im Unterschiede des idyllischen, schon andernorts den heroischen nannte. In schönster Poesie und Reichhaltigkeit echt menschlicher Charakterzüge finden wir ihn bei Homer geschildert. Hier haben wir im häuslichen und öffentlichen Leben ebensowenig eine barbarische Wirklichkeit als die bloß verständige Prosa eines geordneten Familien- und Staatslebens, sondern jene ursprünglich poetische Mitte vor uns, wie ich sie oben bezeichnet habe. Ein Hauptpunkt aber betrifft in dieser Rücksicht die freie Individualität aller Gestalten. In der llias z. B. ist Agamemnon wohl der König der Könige, die übrigen Fürsten stehen unter seinem Zepter, aber seine Oberherrschaft wird nicht zu dem trockenen Zusammenhange des Befehls und Gehorsams, des Herren und seiner Diener. Im Gegenteil, Agamemnon muß viel Rücksicht nehmen und klug nachzugeben verstehen, denn die einzelnen Führer sind keine zusammenberufenen Statthalter oder Generale, sondern selbständig wie er selber; frei haben sie sich um ihn her gesammelt oder sind durch allerlei Mittel zu dem Zuge verleitet, er muß sich mit ihnen beraten, und beliebt es ihnen nicht, so halten sie sich wie Achilles vom Kampfe fern. Die freie Teilnahme wie das ebenso eigenwillige Abschließen, worin die Unabhängigkeit der Individualität sich unversehrt bewahrt, gibt dem ganzen Verhältnisse seine poetische Gestalt. Das Ähnliche finden wir in den Ossianischen Gedichten wie in der Beziehung des Cid zu den Fürsten, denen dieser poetische Held nationaler romantischer Ritterschaft dient. Auch bei Ariost und Tasso ist noch dies freie Verhältnis nicht gefährdet, und bei Ariost besonders ziehen die einzelnen Helden in fast zusammenhangsloser Selbständigkeit auf eigene Abenteuer aus. Wie die Fürsten zu Agamemnon, so steht nun auch das Volk zu seinen Führern. Freiwillig ist es denselben gefolgt; es ist da noch kein zwingendes Gesetz, dem das Volk unterworfen wäre; Ehre, Achtung, Schamgefühl vor dem Mächtigeren, der immer Gewalt brauchen würde, das Imponieren des Heldencharakters usf. macht den Grund des Gehorsams aus. Und so herrscht auch im Innern des Hauses Ordnung, aber nicht als feste Gesindeordnung, sondern als Gesinnung und Sitte. Alles erscheint, als sei es eben unmittelbar so geworden. Von den Griechen z. B. erzählt Homer bei Gelegenheit eines Kampfes mit den Troern, auch sie hätten viele rüstige Streiter verloren, doch weniger als die Troer, denn (sagt Homer) sie gedachten immer einander die harte Not abzuhalten. Sie halfen also einander. Wollten wir nun heutigentags einen Unterschied zwischen einer wohleinexerzierten und unzivilisierten Heeresmacht aufstellen, so würden wir das Wesentliche gebildeter Heere auch in diesem Zusammenhalt und Bewußtsein, nur in Einheit mit anderen zu gelten, suchen müssen. Barbaren sind nur Haufen, in denen sich keiner auf den anderen verlassen kann. Was aber bei uns als Resultat einer strengen und mühseligen Militärdisziplin, als Einübung, Kommando und Herrschaft fester Ordnung erscheint, das ist bei Homer noch eine Sitte, die sich von selber macht und den Individuen als Individuen lebendig innewohnt.

Den gleichen Grund haben nun auch bei Homer die mannigfaltigen Beschreibungen äußerlicher Dinge und Zustände. Bei Naturszenen, wie sie in unseren Romanen beliebt sind, hält er sich zwar nicht viel auf; dagegen ist er höchst umständlich in Schilderung eines Stockes, Zepters, Bettes, der Waffen, Gewänder, Türpfosten und vergißt selbst nicht der Angeln zu erwähnen, auf denen die Tür sich dreht. Bei uns würde dergleichen als sehr äußerlich und gleichgültig erscheinen, ja wir sind sogar unserer Bildung nach gegen eine Menge Gegenstände, Sachen und Ausdrücke von höchst spröder Vornehmigkeit und haben eine weitläufige Rangordnung in den verschiedenen Stockwerken der Kleidung, Gerätschaften usf. Außerdem zersplittert sich Jetzigerzeit jede Hervorbringung und Zubereitung irgendeines Befriedigungsmittels unserer Bedürfnisse zu solcher Vielfältigkeit von Geschäften der Fabriks- und Handwerkstätigkeit, daß alle die besonderen Seiten dieser breiten Verzweigung zu etwas Untergeordnetem herabgesetzt sind, das wir nicht beachten und aufzählen dürfen. Die Existenz der Heroen aber hat eine ungleich ursprünglichere Einfachheit der Gegenstände und Erfindungen und kann sich bei ihrer Beschreibung aufhalten, weil alle diese Dinge noch in gleichem Range stehen und als etwas gelten, worin der Mensch, insofern sein ganzes Leben ihn nicht davon ableitet und in eine nur intellektuelle Sphäre führt, noch eine Ehre seiner Geschicklichkeit, seines Reichtums seines positiven Interesses hat. Ochsen zu schlachten, zuzubereiten, Wein einzuschenken usf. ist ein Geschäft der Heroen selbst, das sie als Zweck und Genuß treiben, während bei uns ein Mittagessen, wenn es nicht alltäglich sein soll, nicht nur seltene delikate Sachen zutage bringen muß, sondern außerdem auch vortreffliche Diskurse verlangt. Die umständlichen Schildereien Homers in diesem Kreise von Gegenständen dürfen uns deshalb nicht eine poetische Zutat zu einer kahleren Sache dünken, sondern diese ausführliche Beachtung ist der Geist der geschilderten Menschen und Zustände selbst; wie bei uns z. B. die Bauern über äußerliche Dinge mit großer Ausführlichkeit reden oder auch unsere Kavaliere von ihren Ställen, Pferden, Stiefeln, Sporen, Hosen usf. mit ähnlicher Breite zu erzählen wissen, was denn freilich in dem Kontrast gegen ein würdigeres intellektuelles Leben als platt erscheint.

Diese Welt nun darf nicht bloß das beschränkt Allgemeine der besonderen Begebenheit in sich fassen, die auf solch einem vorausgesetzten Boden vor sich geht, sondern muß sich zur Totalität der Nationalanschauung erweitern. Hiervon finden wir das schönste Beispiel in der Odyssee, welche uns nicht nur in das häusliche Leben der griechischen Fürsten und ihrer Diener und Untergebenen einführt, sondern auch die mannigfachen Vorstellungen von fremden Völkern, den Gefahren des Meers, der Behausung der Abgeschiedenen usf. aufs reichhaltigste vor uns ausbreitet. Doch auch in der llias, wo der Schauplatz der Taten, der Natur des Gegenstandes gemäß, beschränkter sein mußte und inmitten des kriegerischen Kampfes Szenen des Friedens wenig Platz finden konnten, hat Homer z. B. kunstvoll das ganze Rund der Erde und des menschlichen Lebens, Hochzeiten, gerichtliche Handlungen, Ackerbau, Herden usf., Privatkriege der Städte gegeneinander mit bewunderungswürdiger Anschauung angebracht auf dem Schilde des Achill, dessen Beschreibung insofern als kein äußeres Nebenwerk angesehen werden darf. In den Gedichten dagegen, die Ossians Namen tragen, ist die Welt im ganzen zu beschränkt und unbestimmt und hat ebendeswegen schon einen lyrischen Charakter, während auch Dantes Engel und Teufel keine Welt für sich sind, die uns näher anginge, sondern nur dazu dienen, den Menschen zu belohnen und zu strafen. Vor allem aber fehlt in dem Nibelungenliede die bestimmte Wirklichkeit eines anschaulichen Grundes und Bodens, so daß die Erzählung in dieser Rücksicht schon gegen den bänkelsängerischen Ton hingeht. Denn sie ist zwar weitläufig genug, doch in der Art, wie wenn Handwerksburschen von weitem davon gehört und die Sache nun nach ihrer Weise erzählen wollten. Wir bekommen die Sache nicht zu sehen, sondern merken nur das Unvermögen und Abmühen des Dichters. Diese langweilige Breite der Schwäche ist freilich im Heldenbuche noch ärger, bis sie endlich nur von den wirklichen Handwerksburschen, welche Meistersänger waren, übertroffen worden ist.

β) Indem jedoch das Epos für die Kunst eine spezifisch nach allen Seiten der Besonderung bestimmte Welt zu gestalten hat und deshalb an sich selber individuell sein muß, so ist es die Welt eines bestimmten Volks, die sich darin abspiegelt.

αα) In dieser Rücksicht geben uns alle wahrhaft ursprünglichen Epopöen die Anschauung eines nationalen Geistes in seinem sittlichen Familienleben, öffentlichen Zuständen des Kriegs und Friedens, in seinen Bedürfnissen, Künsten, Gebräuchen, Interessen, überhaupt ein Bild der ganzen Stufe und Weise des Bewußtseins. Die epischen Gedichte würdigen, sie näher betrachten, auslegen heißt daher, wie wir schon oben sahen, nichts anderes, als die individuellen Geister der Nationen vor unserem geistigen Auge vorbeipassieren lassen. Sie zusammen stellen selbst die Weltgeschichte dar, in deren schönster, freier, bestimmter Lebendigkeit, Hervorbringung und Tat. Griechischen Geist z. B. und griechische Geschichte oder wenigstens das Prinzip dessen, was das Volk in seinem Ausgangspunkte war und was es mitbrachte, um den Kampf seiner eigentlichen Geschichte zu bestehen, lernt man aus keiner Quelle so lebendig, so einfach kennen als aus Homer.

ββ) Nun gibt es aber zweierlei Arten nationaler Wirklichkeit: erstens eine ganz positive Welt speziellster Gebräuche gerade dieses einzelnen Volks, in dieser bestimmten Zeit, bei dieser geographischen und klimatischen Lage, diesen Flüssen, Bergen, Wäldern und Naturumgebung überhaupt; zweitens die nationale Substanz des geistigen Bewußtseins in Ansehung auf Religion, Familie, Gemeinwesen usf. Soll ein ursprüngliches Epos nun, wie wir es forderten, die dauernd gültige Bibel, das Volksbuch sein und bleiben, so wird das Positive der vergangenen Wirklichkeit auf ein fortwirkend lebendiges Interesse nur insofern Anspruch machen können, als die positiven Charakterzüge in einem inneren Zusammenhange mit jenen eigentlich substantiellen Seiten und Richtungen des nationalen Daseins stehen. Denn sonst wird das Positive ganz zufällig und gleichgültig. So gehört z. B. eine einheimische Geographie zur Nationalität; gibt sie aber nicht dem Volke seinen spezifischen Charakter, so ist eine ferne anderweitige Naturumgebung, wenn dieselbe nur nicht der nationalen Eigentümlichkeit widerspricht, teils von keiner Störung, teils kann sie sogar für die Einbildungskraft etwas Anziehendes haben. An die unmittelbare Gegenwart heimischer Berge und Ströme knüpfen sich zwar die sinnlichen Erinnerungen der Jugend; fehlt aber das tiefere Band der ganzen Anschauungs- und Denkweise, so sinkt dieser Zusammenhang doch mehr oder weniger zu etwas Äußerlichem herab. Außerdem ist es bei Kriegsunternehmungen, wie z. B. in der llias, nicht möglich, das vaterländische Lokal beizubehalten; ja, hier hat die fremde Naturumgebung sogar etwas Reizendes und Lockendes. - Schlimmer aber steht es mit der dauernden Lebendigkeit eines Epos, wenn sich im Verlauf der Jahrhunderte das geistige Bewußtsein und Leben so umgewandelt hat, daß die Bande dieser späteren Vergangenheit und jenes Ausgangspunktes ganz zerrissen sind. So ist es z. B. Klopstock in anderen Gebieten der Poesie mit seiner Herstellung einer nationalen Götterlehre und in ihrem Gefolge mit Hermann und Thusnelda ergangen. Dasselbe ist vom Nibelungenliede zu sagen. Die Burgunder, Kriemhilds Rache, Siegfrieds Taten, der ganze Lebenszustand, das Schicksal des gesamten untergehenden Geschlechts, das nordische Wesen, König Etzel usf. - das alles hat mit unserem häuslichen, bürgerlichen, rechtlichen Leben, unseren Institutionen und Verfassungen in nichts mehr irgendeinen lebendigen Zusammenhang. Die Geschichte Christi, Jerusalem, Bethlehem, das römische Recht, selbst der Trojanische Krieg haben viel mehr Gegenwart für uns als die Begebenheiten der Nibelungen, die für das nationale Bewußtsein nur eine vergangene, wie mit dem Besen rein weggekehrte Geschichte sind. Dergleichen jetzt noch zu etwas Nationalem und gar zu einem Volksbuche machen zu wollen ist der trivialste, platteste Einfall gewesen. In Tagen scheinbar neu auflodernder Jugendbegeisterung war es ein Zeichen von dem Greisenalter einer in der Annäherung des Todes wieder kindisch gewordenen Zeit, die sich an Abgestorbenem erlabte und darin ihr Gefühl, ihre Gegenwart zu haben auch anderen hat zumuten können.

 


 © textlog.de 2004 • 19.03.2024 10:37:40 •
Seite zuletzt aktualisiert: 14.09.2004 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright