c. Das Epos als einheitsvolle Totalität

ββ) Wenden wir uns nun zweitens auf die Art und Weise hin, in welcher die epische Poesie den Fortgang und Verlauf der Ereignisse zu motivieren befugt sein kann, so darf sie den Grund dessen, was geschieht, weder nur aus der subjektiven Stimmung noch aus der bloßen Individualität des Charakters entnehmen und dadurch das eigentliche Gebiet des Lyrischen und Dramatischen betreten, sondern muß sich auch in dieser Rücksicht an die Form der Objektivität halten, welche den epischen Grundtypus ausmacht. Auf der einen Seite nämlich sahen wir bereits mehrfach, daß die äußeren Umstände für die erzählende Darstellung von nicht minderer Gewichtigkeit wären als die Bestimmungen vom Innern des Charakters aus. Denn im Epos stehen Charakter und Notwendigkeit des Äußerlichen als gleich stark nebeneinander; und das epische Individuum kann deshalb den äußeren Umständen, ohne Schaden für seine poetische Individualität, nachzugeben scheinen und in seinem Handeln das Resultat der Verhältnisse sein, so daß diese dadurch als das Mächtige an die Stelle des im Drama ausschließlich wirkenden Charakters treten. In der Odyssee vornehmlich ist der Fortgang der Ereignisse fast durchweg in dieser Weise motiviert. Ebenso in den Abenteuern des Ariost und sonstigen Epopöen, welche einen mittelalterlichen Stoff besingen. Auch der Götterbefehl, welcher den Äneas zum Gründer Roms bestimmt, sowie die mannigfaltigen Vorfälle, welche die Ausführung ins Weite hinausschieben, würden eine schlechthin undramatische Motivierungsart sein. Der ähnliche Fall tritt in Tassos Befreitem Jerusalem ein, wo sich außer der tapferen Gegenwehr der Sarazenen noch vielfach Naturereignisse dem Zwecke des christlichen Heeres entgegenstellen. Und solcher Beispiele ließen sich viele fast aus allen berühmten Epopöen anführen. Denn solche Stoffe gerade, in welchen diese Darstellungsweise möglich und notwendig wird, hat der epische Dichter auszuwählen.
Dasselbige findet da statt, wo sich das Resultat aus dem wirklichen Entschluß der Individuen ergeben soll. Auch hier nämlich muß nicht dasjenige herausgenommen und ausgesprochen werden, was der Charakter im dramatischen Sinne des Worts, seinem Zwecke und der individuellen Leidenschaft nach, die ihn einseitig beseelt, aus den Umständen und Verhältnissen macht, um seinen Charakter sowohl gegen dies Äußere als auch gegen andere Individuen zu behaupten; sondern das epische Individuum schließt dies reine Handeln nach seinem subjektiven Charakter sowie den Erguß bloß subjektiver Stimmungen und zufälliger Gefühle aus und hält sich umgekehrt einerseits an die Umstände und deren Realität, so wie andererseits das, wodurch es bewegt wird, das an und für sich Gültige, Allgemeine, Sittliche usw. sein muß. Homer besonders gibt hierüber zu unerschöpflichen Betrachtungen Anlaß. Die Klagen z. B. der Hekuba über Hektors, des Achilles über Patroklos' Tod, welche dem Inhalte nach ganz lyrisch behandelt sein könnten, gehen dennoch nicht aus dem epischen Tone heraus, und ebensowenig fällt Homer in Situationen, die sich für dramatische Darstellung eignen würden, wie z. B. der Streit des Agamemnon und Achill im Rate der Fürsten oder der Abschied Hektors und Andromaches, irgend in den dramatischen Stil. Nehmen wir z. B. die letztere Szene, so gehört sie zum Schönsten, was die epische Poesie irgend zu geben imstande ist.
Selbst in Schillers Wechselgesang der Amalie und des Karl in den Räubern, wo derselbe Gegenstand ganz lyrisch behandelt sein soll, klingt noch ein epischer Ton aus der llias nach. Zu welch epischer Wirkung aber beschreibt Homer im sechsten Buch der llias, wie Hektor Andromache im Hause vergeblich aufsucht und sie dann erst auf dem Wege am Skäischen Tore findet, wie sie ihm entgegeneilt, neben ihn tritt und zu ihm, der mit stillem Lächeln sein Knäblein auf dem Arme der Wärterin anblickt, sagt: »Wunderbarer, verderben wird dich dein Mut, und du erbarmst dich weder des unmündigen Knaben noch meiner, der Unglücklichen, die bald Witwe sein wird von dir; denn bald töten werden dich die Achäer, zusamt einstürmend: mir aber wäre es besser, habe ich dich verloren, unter die Erde zu gehn. Nicht bleibt mir ein anderer Trost, wenn auch du dem Schicksal erlegen, als Leiden! Weder den Vater habe ich mehr noch die hohe Mutter.« Und nun erzählt sie weitläufig den Hergang von ihres Vaters und der sieben Brüder Tode, die ihr alle Achilles erschlug; von der Mutter Gefangenschaft, Auslösung und Ende. Dann erst wendet sie sich wieder mit eindringlicher Bitte zu Hektor, der ihr nun Vater und Mutter ist, Bruder und blühender Gatte, und fleht ihn an, auf dem Turme zu bleiben und nicht den Knaben zur Waise und sie, die Gattin, zur Witwe zu machen. Ganz in der ähnlichen Art antwortet ihr Hektor: »Auch ich, um dies alles bin ich besorgt, o Weib, aber zu sehr scheue ich die Troer, wenn ich hier als ein Feiger die Schlacht vermiede; auch nicht die Wallung des Augenblicks treibt mich, da ich gewohnt bin, immer tapfer zu sein und unter den vordersten Troern zu kämpfen, schirmend zugleich den hohen Ruhm des Vaters und den meinen. Wohl zwar weiß ich es in Sinn und Gemüt, kommen werde der Tag, an welchem das heilige llion fällt und Priamos und das Volk des lanzenkundigen Königs. Aber nicht um der Troer Leid sorg ich soviel noch um Hekubas selber und des Priamos noch der leiblichen Brüder, die in den Staub fallen werden unter den Feinden, als um dich, wenn dich Weinende ein erzumschienter Achäer wegführt, den Tag dir der Freiheit raubend, und du in Argos an dem Rocken einer anderen spinnst oder mühsam Wasser trägst, widerwillig, aber die mächtige Notwendigkeit über dir liegt und dann wohl einer sagt, dich sehend, die Weinende: dies ist Hektors Weib, des tapfersten Kämpfers unter den Troern, als um llion gestritten ward. So spricht vielleicht irgendwer, und dich wird dann das Weh befallen, daß du solch eines Mannes entbehrst, der von dir die Knechtschaft abwehrte. Mich aber möge die Erde verbergen, eh ich von deinem Geschrei und deinem Wegführen höre.« Was Hektor hier sagt, ist empfindungsreich, rührend, doch nicht in lyrischer Weise nur oder in dramatischer, sondern episch, weil das Bild der Leiden, welches er entwirft und das ihm selber wehe tut, einerseits die Umstände, das rein Objektive darstellt, während andererseits das, was ihn treibt und bewegt, nicht als persönliches Wollen, als subjektiver Entschluß erscheint, sondern als eine Notwendigkeit, die gleichsam nicht sein eigener Zweck und Wille ist. Von ähnlich epischer Rührung sind auch die Bitten, mit welchen Besiegte in umständlichen Angaben und mit Gründen die siegenden Helden um ihr Leben anflehen; denn eine Bewegung des Gemüts, die nur aus den Umständen herfließt und nur durch Motive der objektiven Verhältnisse und Situationen zu rühren unternimmt, ist nicht dramatisch, obschon neuere Tragiker sich hin und wieder auch dieser Wirkungsart bedient haben. Die Szene auf dem Schlachtfelde z. B. in Schillers Jungfrau von Orleans zwischen dem englischen Ritter Montgo-mery und Johanna (2. Akt, 6. Szene) ist, wie schon andere richtig bemerkt haben, mehr episch als dramatisch. Den Ritter verläßt in der Stunde der Gefahr sein ganzer Mut, und dennoch vermag er, gedrängt von dem ergrimmten Talbot, der die Feigheit mit dem Tode straft, und der Jungfrau, welche auch die Tapfersten besiegt, nicht die Flucht zu ergreifen. Oh, ruft er aus,
Wär ich nimmer über Meer hierher geschifft,
Ich Unglücksel'ger! Eitler Wahn betörte mich,
Wohlfeilen Ruhm zu suchen in dem Frankenkrieg,
Und jetzo führt mich das verderbliche Geschick
In diese blut'ge Mordschlacht. - Wär ich weit von hier
Daheim noch an der Savern' blühendem Gestad
Im sichern Vaterhause, wo die Mutter mir
In Gram zurückblieb und die zarte, süße Braut.
Dies sind unmännliche Äußerungen, welche die ganze Figur des Ritters weder für das eigentliche Epos noch für die Tragödie passend machen, sondern sie mehr in die Komödie verweisen. Als nun Johanna mit dem Ausruf:
Du bist des Todes! Eine brit'sche Mutter zeugte dich -
auf ihn zuschreitet, wirft er Schwert und Schild fort und fleht zu ihren Füßen um sein Leben. Die Gründe sodann, welche er, um sie zu bewegen, weitläufig ausführt: seine Wehrlosigkeit; der Reichtum des Vaters, der ihn mit Golde auslösen werde; die Milde des Geschlechts, zu welchem Johanna als Jungfrau gehöre; die Liebe der süßen Braut, die weinend daheim der Wiederkehr des Geliebten harre; die jammervollen Eltern, die er zu Haus verlassen; das schwere Schicksal, in der Fremde unbeweint zu sterben - alle diese Motive betreffen einerseits an sich selber schon objektive Verhältnisse, die Wert und Gültigkeit haben, andererseits ist die ruhige Exposition derselben epischer Art. In der gleichen Weise motiviert der Dichter den Umstand, daß Johanna ihn anhören muß, äußerlich durch die Wehrlosigkeit des Bittenden, während sie ihn doch, dramatisch genommen, gleich beim ersten Anblick ohne Zögern töten müßte, da sie als unrührbare Feindin aller Engländer auftritt und diesen verderbenbringenden Haß mit großer Rhetorik ausspricht und dadurch rechtfertigt, daß sie dem Geisterreiche durch den furchtbar bindenden Vertrag verpflichtet sei,
Mit dem Schwert zu töten alles Lebende, das mir
Der Schlachten Gott verhängnisvoll entgegenschickt.
Käme es ihr nur darauf an, daß Montgomery nicht unbewaffnet sterben solle, so hätte er, da sie ihn so lange schon angehört hat, das beste Mittel, am Leben zu bleiben, in seinen Händen: er brauchte nur nicht wieder zu den Waffen zu greifen. Doch auf ihre Aufforderung, mit ihr, der selber Sterblichen, um des Lebens süße Beute zu kämpfen, faßt er das Schwert wieder und fällt von ihrem Arm. Dieser Fortgang der Szene, ohne die breiten epischen Explikationen, würde sich besser schon für das Drama eignen.
γγ) Im allgemeinen nun drittens können wir die Art des poetischen Verlaufs epischer Begebnisse sowohl in bezug auf die äußere Breite, zu welcher die nähere Veranschaulichung nötigt, als auch in Rücksicht auf das Vorschreiten zu dem Endresultat der Handlung besonders der dramatischen Poesie gegenüber so charakterisieren, daß die epische Darstellung nicht nur überhaupt beim Ausmalen der objektiven Realität und inneren Zustände verweilt, sondern außerdem der endlichen Auflösung Hemmungen entgegenstellt. Hierdurch vornehmlich leitet sie von der Durchführung des Hauptzweckes, dessen konsequent sich fortentwickelnden Kampf der dramatische Dichter nie darf aus den Augen verlieren, nach vielen Seiten hin ab und erhält damit eben die Gelegenheit, uns die Totalität einer Welt von Zuständen vor Augen zu bringen, welche sonst nicht zur Sprache kommen könnte.
Mit solch einem Hemmnis überhaupt z. B. beginnt die llias, insofern Homer gleich von der tödlichen Krankheit erzählt, welche Apollo im Lager der Griechen hat ausbrechen lassen, und daran nun den Streit des Achill und Agamem-non knüpft. Dieser Zorn ist das zweite Hemmnis. Mehr noch ist in der Odyssee jedes Abenteuer, das Ulysses bestehen muß, eine Verzögerung der Heimkehr. Besonders aber dienen die Episoden zur Unterbrechung des unmittelbaren Fortgangs und sind größtenteils hemmender Art. So z. B. der Schiffbruch des Äneas, die Liebe zur Dido, das Auftreten der Armida bei Vergil und Tasso sowie in dem romantischen Epos überhaupt die vielen selbständigen Liebesabenteuer der einzelnen Helden, welche bei Ariosto sogar zu einer so bunten Mannigfaltigkeit sich anhäufen und durcheinanderschlingen, daß dadurch der Kampf der Christen und Sarazenen ganz verdeckt wird. In Dantes Göttlicher Komödie treten zwar keine ausdrücklichen Hindernisse für den Fortgang ein, aber hier liegt das episch langsame Vorschreiten teils überhaupt in der überall sich aufhaltenden Schilderung, teils in den vielen kleinen episodischen Geschichten und Besprechungen mit einzelnen Verdammten usf., von denen der Dichter einen genaueren Bericht erstattet.
In dieser Rücksicht ist es nun aber vor allem notwendig, daß dergleichen Hindernisse, welche sich dem zum Ziele voreilenden Gange in den Weg legen, sich nicht als bloße zu äußeren Zwecken angewendete Mittel zu erkennen geben. Denn wie schon der allgemeine Zustand, auf dessen Boden die epische Welt sich bewegt, nur dann wahrhaft poetisch ist, wenn er sich von selber gemacht zu haben scheint, so muß auch der ganze Verlauf durch die Umstände und das ursprüngliche Schicksal um so mehr wie von selber entstehen, ohne daß man dabei die subjektiven Absichten des Dichters herausmerkt, je mehr gerade die Form der Objektivität, sowohl nach selten der realen Erscheinung als auch in betreff auf das Substantielle des Gehalts, dem Ganzen wie den einzelnen Teilen den Anspruch zuteilt, durch sich und für sich selber dazusein. Steht aber eine leitende Götterwelt an der Spitze, deren Hand die Begebnisse lenkt, so ist besonders in diesem Falle wieder für den Dichter selbst ein noch frischer, lebendiger Götterglaube nötig, da es meistens die Götter sind, durch welche dergleichen Hindernisse hervorgerufen werden, so daß nun also, wo diese Mächte nur als leblose Maschinerie gehandhabt sind, auch das, was von ihnen ausgeht, zu einem absichtlichen bloßen Machwerk des Dichters herabsinken muß.