b. Das klassische Epos der Griechen und Römer


Die Poesie der Griechen und Römer nun zweitens führt uns erst in die wahrhaft epische Kunstwelt ein.

α) Zu solchen Epopöen gehören vor allem diejenigen, welche ich schon oben an die Spitze stellte, die Homerischen.

αα) Jedes dieser Gedichte ist - was man auch sagen mag - in sich so vollendet, ein so bestimmtes, so feinsinniges Ganzes, daß gerade die Meinung, sie seien beide nur so von einzelnen Rhapsoden fortgesungen und fortgesetzt, für mich diesen Werken nur das richtige Lob erteilt, daß sie in ihrem ganzen Tone der Darstellung schlechthin national und sachlich und selbst in ihren einzelnen Teilen so abgerundet seien, daß jeder derselben für sich als ein Ganzes erscheinen könne. - Wenn im Orient das Substantielle und Allgemeine der Anschauung noch die Individualität der Charaktere und ihrer Zwecke und Begebenheiten symbolisch oder didaktisch verzehrt und dadurch auch die Gliederung und Einheit des Ganzen unbestimmter und loser läßt, so finden wir die Welt dieser Gedichte zum ersten Male auf der schönen Schwebe zwischen den allgemeinen Lebensgrundlagen der Sittlichkeit in Familie, Staat und religiösem Glauben und der individuellen Besonderheit des Charakters, in dem schönen Gleichgewicht zwischen Geist und Natur, zweckvoller Handlung und äußerem Geschehen, nationaler Basis der Unternehmungen und einzelnen Absichten und Taten; und wenn auch die individuellen Helden in ihrer freien lebendigen Bewegung vorzuherrschen scheinen, so ist diese doch wieder durch die Bestimmtheit der Zwecke und den Ernst des Schicksals so ermäßigt, daß die ganze Darstellung auch für uns noch als das Höchste gelten muß, was wir im Kreise des Epos genießen und lieben können. Denn selbst die Götter, welche diesen ursprünglich menschlichen, tapferen, rechtlichen, edlen Helden widerstreiten oder ihnen beistehen, müssen wir ihrer Bedeutung nach anerkennen und in der Gestalt ihres Erscheinens durch die volle Naivität der ihre eigenen menschlichen Göttergebilde ebenso heiter wieder belächelnden Kunst befriedigt sein.

ββ) Die nachfolgenden zyklischen Dichter jedoch treten aus dieser echt epischen Darstellung mehr und mehr hinaus, indem sie auf der einen Seite die Totalität der nationalen Weltanschauung mehr in deren besondere Sphären und Richtungen zerlegen und auf der anderen, statt der poetischen Einheit und Abgeschlossenheit einer individuellen Handlung, mehr nur an der Vollständigkeit der Ereignisse vom Ursprung bis zum Ende der Begebenheit oder an der Einheit der Person festhalten und die epische Poesie in selbst schon historischer Tendenz der Geschichtsschreibung der Logographen entgegenführen.

γγ) Die spätere epische Poesie nach der Zeit Alexanders endlich wendet sich teils dem engeren bukolischen Kreise zu, teils bringt sie es nur zu mehr gelehrter und künstlichen als eigentlich poetischen Epopöen sowie zu Lehrgedichten, welche wie diese ganze Sphäre der ursprünglichen unbefangenen Frische und Beseelung in steigendem Grade entbehren.

β) Dieser Charakterzug, mit dem das griechische Epos endet, ist nun zweitens bei den Römern von Hause aus herrschend. Eine epische Bibel, wie die Homerischen Gedichte, suchen wir deshalb hier vergebens, wie sehr man sich auch in neuester Zeit die älteste römische Geschichte in nationale Epopöen aufzulösen bemüht hat. Dagegen macht sich früh bereits neben dem eigentlichen Kunstepos, als dessen schönstes Produkt die Äneis stehenbleibt, das historische Epos und das Lehrgedicht zu dem Beweise geltend, daß es den Römern hauptsächlich anstand, die halb schon prosaischen Gebiete der Poesie auszubilden, wie denn auch besonders die Satire bei ihnen als heimische Gattung zur Vollendung kam.


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