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Mai 1916

Die Fundverheimlichung

Wien, 26. April. (Das Ende eines zugelaufenen Hundes.) Der 19jährige Straßenbahnschaffner Josef Schüch hatte sich heute vor dem Bezirksrichter Dr. Fialla (Josefstadt) gegen eine durch ihre Begleitumstände merkwürdige Anklage wegen Fundverheimlichung zu verantworten. Nach einer vom Volksschullehrer Franz Wltschek erstatteten polizeilichen Anzeige soll der Beschuldigte am 6. März einen ihm auf der Straße zugelaufenen Hund, der sehr groß war, in seine Wohnung mitgenommen, daselbst am nächsten Tage mit einem Stocke erschlagen, kunstgerecht zerlegt und dann das Fleisch gekocht und gemeinsam mit seinem Onkel, dem Offizial Franz Schüch, verzehrt haben.

Der Angeklagte erklärte in der heute durchgeführten Verhandlung, daß er während seiner Dienstfahrt auf der Elektrischen von mehreren Fahrgästen auf den Hund aufmerksam gemacht wurde, der während der Fahrt auf die Elektrische aufgesprungen war. Er habe den Hund, der ohne Beißkorb und Marke war und ganz verwahrlost aussah, vom Wagen weggejagt. Der Hund sei jedoch der Elektrischen stets nachgelaufen und sei schließlich, als er am Abend den Dienst verlassen hatte, bis in seine Wohnung nachgefolgt. — Richter: Was haben Sie mit dem Hund gemacht? — Angeklagter: Aus Mitleid habe ich den Hund, der ganz abgemagert war, in meine Wohnung genommen und ihn zunächst ordentlich gefüttert. Am nächsten Tage habe ich dann den Hund, weil er meine Wohnung verunreinigte und auf mich losgehen wollte, aus Angst mit einem Beil erschlagen, habe dann den Hund kunstgerecht zerlegt und die einzelnen Stücke nach und nach in dem Zimmerofen verbrannt. — Richter: Sie sollen den Hund verzehrt haben? — Angeklagter: Ich werde doch das Fleisch von einem solchen Hunde, der ein gewöhnlicher Köter war und Zeichen von Räude hatte, nicht essen.

Auf den Vorhalt des Richters, warum er den Hund nicht einfach auf die nächste Wachstube gebracht hatte, erwiderte der Angeklagte: Daran habe ich nicht gedacht.

Der Zeuge Franz Schüch, der Onkel des Angeklagten, gab an, daß letzterer in seiner Gegenwart den Hund erst durch Schläge mit einem Pracker betäubt und dann, da er gestöhnt habe, vollends mit einem Beil erschlagen habe. Als der Hund tot war, habe der Neffe gleichfalls in seiner Anwesenheit den Kadaver tranchiert und die einzelnen Stücke im Ofen verbrannt. — Richter: Es wird behauptet, daß Sie und Ihr Neffe den Hund gegessen haben sollen? — Zeuge: Ich werde doch als Mann von sozialer Stellung kein Hundefleisch essen. — Richter: Das ist Geschmacksache. — Zeuge: Der Hund hatte überhaupt keine Rasse gehabt. Er war ganz abgemagert und schäbig.

In drastischer Weise schilderte die Zeugin Theresia Reinisch, eine Nachbarin des Angeklagten, das traurige Ende des Hundes. Sie erklärt, daß der Hund erst fürchterlich gequietscht, dann leise gestöhnt habe. Sie habe in die Wohnung des Angeklagten durch ein Gangfenster sehen können und beobachtet, wie der Angeklagte dem Hund die Haut abgezogen und ihn dann in kleine Stücke zerlegt habe. — Richter (zur Zeugin): Wissen Sie auch, ob der Angeklagte und sein Onkel den Hund gegessen haben? — Zeugin: Das habe ich nicht gesehen, aber die Frau Schüch hat mir auf meine Frage, was mit dem Hund eigentlich geschehen sei, gesagt: »Der Seppl« — das ist der Angeklagte — »hat ihn gekocht und gegessen.« Ich habe darauf erwidert: »Das ist gemein, und es wundert mich, daß so was gebildeten Menschen erlaubt ist.«

Die als Zeugin vorgerufene Frau Marie Schüch, die Tante des Angeklagten, erklärte, sich der Zeugenaussage gegen ihren Neffen entschlagen zu wollen.

Der als Zeuge vernommene Volksschullehrer Franz Wltschek gab an, daß ihm die Nachbarn der Familie Schüch sehr aufgeregt die Geschichte vom Hund erzählt und unter anderm angegeben hätten, daß der Angeklagte das Fleisch bei der Wasserleitung gewaschen und dann im gekochten Zustande mit seinem Onkel gegessen habe. Auf die Frage des Richters an den Zeugen, wie der Hund lebend ausgesehen habe, erwiderte der Zeuge: Ich habe den Hund nicht gesehen, aber eine Trafikantin, bei der Herr Schüch mit dem Hund war, bemerkte: »Das ist aber ein schöner Hund.«

Der Richter konstatierte aus dem Akt, daß sich bisher der Eigentümer des Hundes nicht gemeldet habe.

Der staatsanwaltliche Funktionär Auskultant Dr. Herzl beantragte die Bestrafung des Angeklagten wegen Fundverheimlichung, da er nach dem Gesetze verpflichtet gewesen wäre, von dem ihm zugelaufenen Hunde bei der Polizei die Fundanzeige zu machen.

Der Richter sprach den Angeklagten frei mit der Begründung, daß der ohne Beißkorb und Marke dem Angeklagten zugelaufene Hund als eine herrenlose, von dem früheren Eigentümer jedenfalls preisgegebene Sache anzusehen ist.

Wenn dieses hier, wie es ist, aus dem Blatt, das die deutsch-österreichische Kultur vertritt, in Times, Figaro, Nowoje Wremja oder Corriere della Sera übergeht, so ist es die größte Greuellüge, die je über uns erfunden wurde. Wenn es als Bericht über eine Gerichtsverhandlung in London, Paris, Petersburg oder Rom erschiene, wär’s der unwiderleglichste Beweis für den kulturellen Zusammenbruch der dort hausenden Nationen. Es ist ein Fall, in welchem die noch auf den Trümmern des Menschentums quälende Auseinandersetzung zwischen Mensch und Tier mit der Stummheit des Tiers zum Himmel schreit, Rache, Pest und Sintflut herabfordernd auf eine entartete Abart von Tier, die nur zwei Beine hat, doch zwei Arme zum Morden. Nicht daß Fleischnot den Menschen, unter dessen Messer ja auch Kalb und Huhn nicht mit dankbarem Blick verscheiden, zwänge, vom Hund zu essen, ist das Entsetzliche, und der Witz des Richters, es sei Geschmacksache, mag der logische Ruhepunkt sein, von dem man schaudernd dieses Wirrsal des Gefühls überblickt. Daß ein Offizial und ein Tramwaykondukteur es als gebildete Menschen ablehnen oder es mit ihrer sozialen Stellung unvereinbar finden, das Fleisch eines rasselosen Hundes zu essen — das ist wohl eine Möglichkeit innerhalb der Ordnung dieses Planeten, verständlich dem, der sich dort zur Not eingerichtet hat. Das Grauen beginnt bei der Unschuld. Bei der Glaubhaftigkeit der Versicherung, der Hund sei nicht für den Appetit geschlachtet worden, und bei dem Zugeständnis, daß es mit den Standesvorurteilen vereinbar sei, einen Hund zu tranchieren, den man nicht essen möchte. Wäre das kunstgerechte Zerlegen nicht l’art pour l’art gewesen, sondern die Tat des Hungers, der Mensch hätte tierisch gehandelt, und das wäre in der Zeit der schweren Not entschuldbar, wo Menschen nichts zu essen haben, weil Menschen geschlachtet werden, damit Menschen mehr zu essen haben. Da es nicht der Fall ist, so hat der Mensch nur menschlich gehandelt. »›Das wildste Tier kennt doch des Mitleids Regung.‹ ›Ich kenne keins, und bin daher kein Tier.‹« Menschlich ist die Anklage auf Fundverheimlichung; menschlich Laune und Fragestellung des Richters, der den Wert des Funds nach der Eignung zum Lebensmittel, diese nach der Angabe schätzen will, »wie der Hund lebend ausgesehen habe«; menschlich der Freispruch mit der Begründung, der herrenlose Hund sei eine preisgegebene Sache gewesen; menschlich der Bericht, der die Sachlichkeit der Beschreibung durch die Objektivität der Meinung ergänzt, es sei »eine durch ihre Begleitumstände merkwürdige Anklage wegen Fund Verheimlichung«. Menschlich alles an dieser Tragödie, in der — über alle noch so tieftraurige Begebenheit hinaus, die heute den Menschen im ohnmächtigen Kampf gegen die von ihm verschuldete Maschine den Tod sterben läßt, welchen man Heldentod nennt — das Tier den wahren Opfertod der Treue erleidet, der Treue als der zum Tier geflohenen Eigenschaft, die wieder Schutz sucht beim Menschen, unbehütet vom menschlichen Verstand und darum ohne Wissen um die Gefahr, ohne Arg, ohne Witterung, daß eben er sein Mörder sei. Um der Treue als Idee willen, ihr bis zum letzten Atemzug treu, fallt das Tier in dem einzig tragischen Konflikt zwischen der Lust, zu leben, und der Pflicht, das letzte Pfand des Schöpfers aus der vom Menschen verratenen Schöpfung zu retten. »Kreatur«, im Mund des Menschen zum Schimpf geworden, läuft ihm, wie die bewußtlose Natur des Weibs dem Lustmörder, zu, und er tötet sie — wie der nicht aus Raubsucht — aus Hunger nicht, sondern für die Lust, die ihm die Überlegenheit gewährt. Schwein, Esel, Ochs und Hund — Schimpfworte, um seinesgleichen, die tief unter jenen Gattungen stehen, zu bezeichnen, hat der Mensch daraus gemacht. Aber Schopenhauer hätte seinen Hund nicht »Mensch« rufen sollen, wenn er den Hund doch erhöhen und den Menschen herabsetzen wollte. Armeen brauchen Hunde und rufen sie als ihre »treuen, braven und unentbehrlichen Helfer« an. Sie der Maschine aussetzen, heißt Unwissenheit über die Idee zum größeren Opfer verpflichten. Nur das Tier, das dem Menschen erliegt, ist der Held. O daß doch die Menschheit in einen Traum verfiele, in dem sie vor Lastwagen gespannt und von klugen Pferden, die schon Hü und Hott erlernt haben, mit der Peitsche vorwärts getrieben würde! In dem der räudige, schlechtrassige Mensch einem Hund zuläuft, weil sein verkommener Instinkt in ihm den letzten Retter ersehnt, und von ihm dafür kunstgerecht tranchiert wird! Wann tötete je der Hund den Menschen? In einen Schacht gestürzt, von Hunger zur Tollwut getrieben, wenn ihm dorthin ein Verunglückter nachkam, biß er ihn und ließ dann von dem Fund. Der hier springt, den verlornen Herrn in jeder Gestalt suchend, auf eine Maschine und muß am Biß des tollen Menschen sterben. Er glaubte sich nahe am Ziel, er sprang, wie Hunde selten tun, auf die Straßenbahn; er wird verjagt, springt wieder auf, verläßt den Mann nicht mehr und folgt ihm in die Wohnung. Weil er ihm die verunreinigt und weil er auf ihn losgehen will, der Ordnung halb und halb aus Angst, erschlägt ihn jener mit dem Beil. Aus Mitleid habe er ihn aufgenommen, dazu kam Furcht, das gibt ein Trauerspiel. Nachdem er ihn erlegt, zerlegt er ihn und Stück für Stück bestattet er im Ofen. Der Ordnung halb und halb aus Lust. Ich sah ihn oft. Solch einer, der keiner Fliege ein Haar krümmen kann, sitzt einem vis-à-vis im Zug und schlägt, damit die Fahrt schneller vergeht, mit seiner Schlächterpratze eine tot. Totschlag der Zeit, die nicht vorüberfliegt, nur kriecht und justament am Fenster sitzt, bloß für ein Weilchen, das den Tod ihr bringt. Patsch — und lacht. Trifft ihn der Schlag, so jammern die Verwandten. Ich saß ihm gegenüber, er fragte, ob er die Zeitung nehmen dürfe, aber er fragte nicht, ob es erlaubt sei, die Fliege zu töten. »Seitdem erfuhr ich mehr; was Fliegen sind den müß’gen Knaben, das sind wir den Göttern; sie töten uns zum Spaß.« Hätte ich die Wahl gehabt, über ihm oder der Fliege Schicksal zu sein, ich hätte gewählt! Wie es da auf dem Fenster lief, war’s ein Mechanismus, den er nicht erfinden konnte. Sein Stolz verträgt es nicht, es kränkt ihn, wenn er’s gleich nicht weiß. Fliegen kann er auch, aber das Unnütze stört ihn, und überlegen ist er den Tieren, weil er vor all seiner Stummheit ihre Sprache nicht hört. Hätte ich die Wahl gehabt, einen Hund oder dessen Schlächter zu tranchieren, ich hätte gewählt! Aber in dem großen Schlachthaus, in das wir geboren werden, ist der Hund, der seinen Herrn sucht, nur der Fund des andern, und ein Recht, das die Folterung von Kindern gewährt, erlaubt die Massakrierung von Hunden. Er war sehr groß, doch dunkler Herkunft und schlecht genährt. Er war eine preisgegebene Sache. Nun, die ihr richtet über Menschen und Hunde, hört: Solch eine Sache kann vieles, was ein Mensch nicht kann. Solch eine Sache kann ihm all das sagen, was niemals er zur Sache sprechen könnte. Unsäglich leidet sie um ihn, sucht ihn ihr Auge, durch das allein sie es ihm sagen kann, der es versagt ist, es ihm anzusagen, der Gott, zu schweigen, was sie leidet, gab; unwissend, ob sie preisgegeben ist, stets preisgegeben ihrem Menschenglauben, traut sie uns auf ihr ehrliches Gesicht! Solch eine Sache trägt jede Bürde des Gefühls, die das Bewußtsein uns erleichtern hilft. Man sieht sie sitzen, aber niemand ahnt, daß in der Sache eine Seele sitzt, daß ein Gefühl jetzt schmerzt, daß eine Hoffnung in ihr jetzt treibt, ihr aufgetragen hat, just an der Stelle hier zu warten. So sitzt sie wartend hier vor einem Bahnhof, wo ihre Herrin — denn die Sache war ein Hund — davongefahren ist vor ein paar Stunden ... Als man Abschied nahm, schritt die Sache, der Hund, groß, traurig und ergeben, hinter dem Begleiter den Berghang hinauf, blieb immer wieder stehn und sah zurück. Noch sieht man sie; nicht anders geht ein schweres Herz. Bald ist die Sache verschwunden dem Blick ... Bald ist sie entschwunden dem Hüter. Sie wird gesucht, gefunden: an der Bahn — denn jetzt ist ungefähr die Stunde, daß einst die Herrin angekommen war. Nun kommt sie nicht. Enttäuscht verschmäht die Sache jede Nahrung, selbst sonst geliebte Leckerbissen. Wendet sich ab von allem, was sie tierisch je begehrt, gibt sich dem Hunger preis; verzehrt sich selbst. Nach ein paar Tagen führt man den Hund zur Bahn, denn eine Freundin, die mit der Herrin fortgereist war, kommt. Sie selbst kommt nicht. Er aber rührt sich nicht vom Fleck, blickt auf den Wagen nur und sucht und sucht. Er ißt noch immer nichts, nimmt etwas Milch nur an, so viel gerade nötig, um nicht am Leid zu sterben. Das geht so eine Woche lang. »Er war ganz abgemagert«, sagt der Zeuge. Arsen, Einsicht ins Unabänderliche, Gewöhnung an die stellvertretende Güte bringen ihn wieder hinauf. Man hört es wie ein Märchen, Schulkindern erzählt, die ihr beginnendes Menschentum nicht im Schützengrabenspiel verschütten und noch aufhorchen können, wenn Beispiele sittlicher Haltung ihnen dicht ans Herz gerückt werden. Seht doch nur hin! O du erhabnes Vorbild in dieser Zeit profaner Hungersnot! Von deinem Hunger trenn’ ich mich nicht mehr. Es risse einen von der Menschheit weg, war’ man nicht längst schon über alle Berge. Dort lebt ein Hund. Gott hör’s: Der Menschenehre ersten Preis, der Ehre, die sich preisgegeben hat, sich selber preisgegebner Menschheit Preis geb’ ich dem Hund! Und die Andacht möchte nicht mehr fort von der Stelle, wo das wartende Tier, für eine halbe Stunde herrenlos, länger verlassen, dasitzt, und will die Hand über der Sache, dem Fund, dem Hund halten, damit ihn nicht der Mensch, der Schinder finde, verheimliche, der noch nie aus Sehnsucht gehungert hat, der das Fleisch dieses Hundes nur verschmäht, weil es gramverzehrt ist, widrig dem Geschmack und Stand des Mörders, und der dieses Gottesgeschöpf dennoch töten würde, weil es ein Tier ist, und er, er, ein Mensch!

Vgl.: Die Fackel, Nr. 426-430, XVIII. Jahr
Wien, 15. Juni 1916.