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Gedankenzeichen

Dieser nivellierende, eigentlich ertötende Einfluß meiner geträumten natürlichen Schrift der Zukunft auf die Sprache ist aber weit mehr, als man glauben sollte, auch bei den künstlichen Schriften vorhanden, deren die sogenannten Kulturvölker sich bedienen. Und zwar gerade da, wo wir von altersher die Schrift für die vollkommenste Erfindung halten, wo sie tadellose Buchstabenschrift ist. Wo die Schrift aus Wortzeichen besteht, wie im Chinesischen, da kann sie die lebendige Sprache nicht so ertöten.

Unsere Schriftzeichen sind weit mehr, als man gewöhnlich annimmt, von Wortzeichen, ja von Gedankenzeichen durchsetzt. Ich erinnere nur daran, dass der geübte Leser, der Büchermensch, die Worte des Buchs geläufig wie die abgekürzten Zeichen seiner eigenen Notizen liest. Beispiele von Gedankenzeichen sind, abgesehen von anderen typographischen Punkten und Linien, unsere Ziffern. Es ist doch offenbar, dass z. B. 93 im Zusammenhang eines französischen Satzes weder das Buchstabenzeichen noch das Wortzeichen für quatre-vingt-treize ist; die Laune des französischen Sprachgeistes und uralte Rechengewohnheiten haben dazu geführt, die Ziffer als eine Summe von 80 und 13 aufzufassen, und die Ziffer 80 wieder als ein Produkt von 4 und 20. In Buchstabenschrift müßte das französische Wort natürlich ausgeschrieben werden. Wäre es ein Wortzeichen, so müßte es so aussehen: 4 x 20 + 13. Und auch das wäre nicht ganz entsprechend. Wir denken kaum daran, dass wir in den Ziffern auch im Deutschen bloße Gedankenzeichen haben. Es wird uns aber einleuchten, wenn wir darauf aufmerksam gemacht werden, dass wir z. B. die Jahreszahl 1896 je nach Gewohnheit und Sitte aussprechen können: "eintausendachthundert und sechsundneunzig" oder "achtzehnhundertsechs-undneunzig".

Die Mathematik ist voll von solchen Gedankenzeichen. Ich bemerke nebenbei, dass dieser Umstand allein die gleichen Zeichen für verschiedene Sprachen zugleich möglich macht. Recht aufmerksame Leser werden mich verstehen, wenn ich nun dazu gelange, zu behaupten, dass die rein Wissenschaftlichen technischen Ausdrücke auch außerhalb der Mathematik etwas von Gedankenzeichen an sich haben, wenn sie auch in den verschiedenen Wissenschaften ähnlich ausgesprochen werden. Die griechischen Stämme in diesen technischen Ausdrücken haben nach meinem Sprachgefühl in den verschiedenen Sprachen den Charakter von mathematischen Zeichen oder von den barbarischen Wortzusammensetzungen der modernen Chemie. Man beachte den Unterschied zwischen dem Worte Salz und seinem chemischen Ausdruck. Die Ausdrücke für Salz sind trotz ihrer nahen etymologischen Verwandtschaft in den verschiedenen Sprachen durch Lautzeichen wiedergegeben (Salz, sel, salt), welche dann für den gebildeten Leser zu Wortzeichen werden. Der technische Ausdruck Chlornatrium ist aber für mein Sprachgefühl schon ein Gedankenzeichen, nicht viel weniger als die chemische Formel NaCl, nicht viel anders als das mathematische Zeichen +. Wer solche technische Ausdrücke (auch bekanntere aus der Philosophie oder Botanik) in einer fremden Sprache liest, die ihm nicht ganz geläufig ist, der wird sie unbewußt in der Form lesen, die sie in seiner Muttersprache haben, ganz ebenso wie er etwa das mathematische Zeichen in einem französischen Satze vielleicht nicht als "infini" empfinden wird, sondern als das Gedankenzeichen für seinen Begriff "unendlich", ja wie er beim Lesen eines französischen Romans etwa vorkommende Ziffern unwillkürlich, deutsch aussprechen wird.