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Sprachwissenschaft die einzige Geisteswissenschaft

Die Beschäftigung mit den Einzelsprachen (seien es nun Individualsprachen, Volkssprachen oder selbst Sprachstämme) gilt nicht mehr als rechte Sprachwissenschaft, seitdem die Allgemeingültigkeit der Sprachgesetze in Zweifel gezogen worden ist. Unsere Wissenschaft" will zum Sprachvermögen selbst vordringen, zum Verständnis dieser menschlichen Eigenschaft", von der man nicht recht weiß, ob man sie ein Organ nennen darf oder nicht (weil man nicht weiß, was ein Organ ist). Wollte ich mich durch Aufstellung eines neuen Einteilungsgrundes für die Wissenschaften auszeichnen, so würde ich vorschlagen unsere Kenntnisse oder Erinnerungen zu ordnen danach, ob wir sie auf die Sinneseindrücke selbst beziehen, was dann alle Naturwissenschaften und die zu ihnen gehörigen Historien gäbe (Weltgeschichte als Fortsetzung der Geologie, als Historie vom homo sapiens), oder ob wir uns mit diesen Erinnerungen selbst als Problem beschäftigen, was dann die Geisteswissenschaft wäre oder ein System von Geisteswissenschaften. Und je nachdem ich nun Sprachwissenschaft oberflächlicher oder tiefer nähme, würde sie in jedem Augenblicke einem dieser Fächer zuzuzählen sein, das heißt (da Sprachwissenschaft ein Abstraktum ist und jede einzelne sprachwissenschaftliche Betrachtung sich selbst legitimieren muß) es hängt von mir ab, ob ich eine einzelne Untersuchung so oder so anstellen will. Achte ich z. B. beim Aussprechen der Laute "Stiefel" auf das Geräusch allein oder noch auf sein Werkzeug, so beteilige ich mich an physikalischen, mechanischen oder physiologischen Studien, achte ich auf Entlehnung des Wortes aus dem italienischen stivale (mittelalterlich-lateinisch aestivale, sommerlich, Sommerschuh), so treibe ich einen Ausschnitt Geschichte, unter Umständen auch Kulturgeschichte. Erst wenn ich den Substantivcharakter des Wortes ins Auge fasse, wenn ich dann z. B. das Adjektiv aestivale in seinen grammatischen und logischen Formänderungen verfolge, gelange ich dazu, anstatt der Wirklichkeit und ihrer Sinneseindrücke, an die das Wort erinnert, diese Erinnerung selbst zu betrachten und mich der Frage zu nähern: wie ist Erinnerung im Menschengehirn möglich? Bedenken wir nun, dass alle sogenannten Geisteswissenschaften bei dieser Frage stehen bleiben müssen, weil sie bei ihr nicht vorbei und über sie nicht hinaus können, weil aller Werkzeug die Sprache ist und jeder Gebrauch eines Werkzeugs mit seiner Kenntnis beginnen muß, so dürfen wir vielleicht die Sprachwissenschaft die Geisteswissenschaft par excellence nennen, die Geisteswissenschaft, in welcher Psychologie, Logik, Metaphysik, Moral, Ästhetik und — Graphologie nebst Theologie schon enthalten sind; ja, ich wäre geneigt, alle Geisteswissenschaften, die nicht Sprachwissenschaft sind, Spaßwissenschaften zu nennen. So dass Geisteswissenschaft als Synonym von Sprachwissenschaft übrig bliebe. Nur dass zwei Bildungsbestandteile von "Geisteswissenschaft" mir vollkommen unfaßbare Schälle sind, und ich schon zufrieden wäre, wenn ich Geist mit Sprache gleich setzen und mir bei einem Wissen von der Sprache etwas Bechtes vorstellen könnte.