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Sprache und Wirklichkeit

Der Grundirrtum, welcher allen bisherigen philosophischen Systemen einerseits und der Volksmeinung anderseits das Leben läßt, der Grundirrtum also, welcher den Weisen wie den Toren das Leben so bequem und das Erkennen des Lebens so schwer macht, er besteht darin, dass der gesunde Menschenverstand naiv, die Philosophie auf künstlichen Umwegen dazu kam, ein Denken vorauszusetzen, welches den Verhältnissen oder Kategorien der Wirklichkeitswelt ähnlich oder kongruent sei. Da Denken nichts anderes ist als Sprechen, so sagt diese Annahme aus, die Sprache enthalte in ihren grammatikalischen oder logischen Kategorien ein richtiges Bild der Wirklichkeit, die Sprache sei der Wirklichkeit kongruent. So rohem Philosophieren stellte schon Thomas von Aquino, der Doctor angelicus (der doch — Summa I. Quaestio 107 — über die Sprache der Engel, ihre Telepathie und Subordination poetisch ungereimt wie nur Swedenborg geschrieben hat), den guten Satz entgegen: "Verba sequuntur non modum essendi, qui est in rebus, sed modum essendi, secundum quod in cogitatione nostra sunt."

Welche Rolle die sogenannte Logik in diesen Phantasien spiele, will ich im Zusammenhang mit anderen Fragen darzustellen suchen. Hier aber möchte ich einige Ergebnisse der neueren Sprachwissenschaft sammeln, welche beweisen, dass die einst geplante philosophische Grammatik der ganzen Menschheit, dass also eine gemeinsame Sprachphilosophie der Menschheit ein Narrentraum ist, dass die verschiedenen Völker oder Sprachen nicht nur verschiedene Worte oder Begriffe gebrauchen, sondern auch eine verschiedene Redegliederung oder Logik. Solchen Erscheinungen gegenüber sinkt die Frage nach der gemeinsamen Abstammung der Sprache zum Range einer naturgeschichtlichen Spielerei herab.

Ich will die Erscheinung, bevor ich sie mit Beispielen belege, noch einmal abstrakt ausdrücken. Es scheint natürlich, dass verschiedene Völker für die gleichen Sinneseindrücke auch verschiedene Zeichen eingeführt haben, dass ich Stuhl sage, wo der Franzose chaise sagen muß, wie es auch begreiflich ist, dass der eine Trinker als Merkzeichen für die geleerten Bierseidel die Knöpfe seiner Weste aufmacht, der andere regelmäßige Figuren auf die Tischplatte zeichnet. Unbegreiflich aber muß es dem bisherigen Denken erscheinen, dass die verschiedenen Sprachen gar nicht dieselben Kategorien besitzen, dass die Einteilung z. B. in Dingwörter, Handlungsoder Zustandswörter und Eigenschaftswörter, die uns in unserer Sprache so notwendig dünken, schon bei unseren Nachbarn überflüssig ist. So müßte ein ungelehrter Trinker darüber staunen, wenn irgend eine neu erfundene Maschine die Anzahl der geschuldeten Bierseidel nach der Temperatur in der Achselhöhle, nach der Röte der Wangen oder sonst nach solchen Zeichen anmerken wollte.

Genau betrachtet ist auch in unseren nächsten Sprachen die Einteilung nur eine formale. "Rot" hört nicht auf, eine Eigenschaft zu sein, wenn wir das Dingwort "die Röte" daraus machen, und die Eigenschaft wird für den Bekenner der Wellentheorie eine Bewegung oder ein Verbum. "Es blitzt" hört nicht auf, ein Verbum zu sein, wenn wir es sprachlich in das Dingwort "das Blitzen" oder "der Blitz" verwandeln. Zwischen "es blitzt" und "ein Blitz" kann ich nicht den leisesten Unterschied entdecken. Ebenso gibt es eine Menge adverbiale Begriffe, namentlich Zeitbestimmungen, welche von uns durch Umstandswörter ausgedrückt werden, von anderen durch Verben. Commencer par, finir par, wo wir "zuerst" und "endlich" sagen, ähnliche griechische Worte, wo wir "immer", wo wir "zufällig" sagen würden, bezeichnen wir gewöhnlich als Übersetzungsschwierigkeiten. Jede Übersetzungsschwierigkeit aber ist ein kleiner Beweis dafür, dass Denken oder Sprechen der überall gleichen Wirklichkeitswelt nicht entspricht.

Dazu kommt, dass die Umstandswörter und Vorwörter gewöhnlich umgeformte Dingwörter sind, dass sie also auf eine Zeit zurückweisen, in welcher die Kategorie des Verhältnisses noch eine Kategorie des Dings war. Unser deutsches "trotz" wird als Adverbium schulgerecht mit dem Genitiv verbunden; wer Sinn hat für seine dingliche Bedeutung, wird es den Dativ "regieren" lassen. Dahin gehört es auch, wenn z. B. im Russischen Ortsverhältnisse durch den Kasus des Dingworts allein bezeichnet werden, während wir Vorwörter dazu brauchen. Was sich sprachlich in Adverbien und Präpositionen geschieden hat, das würde man in der Wirklichkeitswelt gar nicht trennen können; und es ist auch von Natur gar nicht sprachlich geschieden, nur die griechischen Grammatiker und ihre Nachfolger haben es getan. Sowohl bei dem vorgrammatischen Homeros als bei den außergrammatischen Chinesen gibt es Worte, von denen niemand sagen kann, ob sie Adverbien oder Präpositionen sind.

Ja selbst die scheinbar unentbehrlichen Negationswörter sollen nicht in jeder Sprache vorhanden sein. Wenigstens lassen Formen des Finnischen und Spuren im Ungarischen vermuten, dass diese Sprachen die Negation nicht als etwas Subjektives auffassen wie wir. Es scheint, dass der Finne anstatt "ich gebe nicht" sagen muß: "ich bin ein Nichtgeber". Ich drücke mich so vorsichtig aus, weil solche sprachvergleichende Studien — wenn man nicht etwa alle Sprachen spricht — niemals Sicherheit geben, immer an den Übersetzungsschwierigkeiten scheitern müssen.