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Gehen

Muß das Kind durchaus einen Namen haben, so müßte die Sprachwissenschaft der Kulturgeschichte eingereiht werden. Kulturgeschichte aber ist, wenn wir das pedantische und hochmütige Wort Kultur (wie wir's zuletzt so herrlich weit gebracht) beiseite lassen, eine Geschichte der menschlichen Gewohnheiten. Der ererbten wie der erworbenen Gewohnheiten, der geistigen wie der mechanischen Gewohnheiten. Die Sprache braucht sich ihrer Nachbarn dabei nicht zu schämen. Es gibt keine mechanische Gewohnheit, die nicht für das Geistesleben Bedeutung hätte. Sicherlich hat selbst die Geschichte der Kochkunst einen Zusammenhang mit der Entwicklungsgeschichte des Menschengehirns. Sicherlich ist die Entwicklungsgeschichte der menschlichen Fortbewegungsart von ungeheurer Bedeutung für das Geistesleben gewesen. Man muß nur verstehen, es unter einen einzigen Gesichtspunkt zu bringen, dass der Mensch erst auf seinen zwei Beinen gehen lernte, dann wer weiß wie lange sich mit dieser Kunst begnügte und jetzt über Dampfschiffe, Eisenbahnen und Luftballons verfügt. Vielleicht wird es nach einer solchen Betrachtung weniger paradox erscheinen, die Entwicklung der menschlichen Sprache mit der Entwicklung des menschlichen Gehens zu vergleichen. Wahrhaftig, auch dieser Vergleich hinkt, schon darum, weil die meisten übrigen Erscheinungen der Kulturgeschichte in früherer Zeit sich nur langsam veränderten und ihr Wechsel jetzt ein schnelleres Tempo anzunehmen scheint, während die Sprache sich früher (namentlich vor der Erfindung der Schrift) viel rascher entwickelte als jetzt. Ich frage aber, ob die Fortbewegung des Menschen vom zweibeinigen Gehen bis zum Orientexpreßzug für die Entwicklung des Menschen nicht von außerordentlicher Wichtigkeit war, ob nicht beinahe von der gleichen Wichtigkeit wie die Sprache, wenn man schon Werte vergleichen soll? Ich frage weiter, ob die Entwicklungsgeschichte der menschlichen Fortbewegungsmittel nicht eine neue und schöne wissenschaftliche Disziplin wäre, würdig der gelehrtesten Bücher und einer außerordentlichen Professur? Und ich frage endlich, ob man ohne Lachen eine Untersuchung darüber anstellen könnte: gehört diese neue und schöne Disziplin, die Entwicklungsgeschichte des Gehens, zu den Natur- oder zu den Geisteswissenschaften?

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