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Rundfrage: Sechs Dichter sehen durch die Zeitlupe

Als alle ausgelacht hatten und Onkel Paul, dem bei Gemütsbewegungen sentimentaler und geschäftlicher Art leicht das Wasser in die Augen schießt, sich die Tränen abgetrocknet hatte, sagte Papa zum Erzähler: »Da müßt ihr doch aber ein sehr vergnügtes Leben auf eurer Farm in Kalifornien haben?« Der bisher einen Sack lustiger Geschichten ausgeleert hatte, daß sie klirrend und glitzernd auf den Tisch gerollt waren, schüttelte den Kopf und wurde plötzlich beinahe ganz ernst. »Ein lustiges Leben –?« sagte er. »Nein, das eigentlich nicht. Lustig … Ja, die Geschichten, die ich euch hier erzählt habe, sind ja recht lustig, und wahr sind sie auch, aber sie sind doch ein Extrakt unseres Lebens, das wir dahinten führen. Es vergehen Monate, bis sich so eine Geschichte ereignet, und wieder Monate bis zur nächsten –.« »Was liegt dazwischen?« fragte Papa. »Dazwischen liegt gar nichts«, sagte der andere. »Dazwischen ist es leer.«

Der Mann hat ganz recht.

Die Literatur ist ein Zeitraffer und die Wirklichkeit eine Zeitlupe. In der Darstellung des Raffers geht das alles ganz schnell. Es entstehen Bewegungskurven, die es eigentlich nicht gibt. Hier arbeitet eine optische Verkürzung der Zeit auf dreihundertachtundvierzig Seiten eines Romans; da wird geboren, in Windeln geguckt, zur Schule gegangen, Pubertät durchgemacht, da werden Verlobungen und Heiraten zelebriert, Ehen erlebt und entzweigebrochen, sie altern, sie sterben, und ich will noch gar nicht einmal davon sprechen, dass in der Mitte der Seite dreihundertachtundvierzig das Wort »Ende« ein verlogener Rahmen ist, der das Ganze herzig abschließt … Denn in Wirklichkeit geht es weiter, und das ist eben das Schlimme, dass alles immer weiter geht.

Aber so gerafft geht es ja gar nicht zu. Die Wahrheit läßt sich Zeit und zerlegt die Dichtung mit der Sorgfalt der Zeitlupe in einzelne Bewegungen, hübsch eine nach der anderen, auch wenn der Zuschauer mitunter vor Langerweile oder an Tabes dabei zugrunde geht. Ihm bleibt nichts erspart. Wir Deutschen, die wir eine ganze Kiepe voll philosophischer und literarischer fixer Ideen auf dem Rücken mit herumtragen, stehen wohl manchmal mit offenem Munde vor einer Zeitlupe der Realität. Wie langsam das alles geht, wie exakt minuziös, wie man alles so schön unterscheiden kann … ! Das ist dann der Augenblick, wo man die Kunst für das eigentlich Reale hält und die Wirklichkeit wie einen Film anzusehen beliebt: nur kann man aus dem Kino immer dann herausgehen, wann man gern möchte, und fünfundsechzig Akte sind mitunter ein bißchen viel …

Der Zeitlupenmann nimmt das Leben auseinander und breitet es sorgfältig vor uns aus: er betrügt den lieben Gott und schaltet uns in die Zeitmaschen ein. Der Zeitraffer reißt es wieder zusammen.

Die Literatur läßt alles Überflüssige weg, aber die große Zeitlupe »Dasein« läßt sich nichts wegnehmen und setzt es sorgfältig wieder ein. Da liegst du im Bett, die kleine Uhr tickt, dein Herz klopft ziemlich schnell, und was da im Dunkeln um dich herum vorbeisickert, so dass du eine Bewegung zu spüren vermeinst, was langsam, ganz langsam rinnt, deutlich erkennbar, mit jener in Watte gewickelten Langsamkeit der Zeitlupenbilder: das ist dein Leben.

Peter Panter
Vossische Zeitung, 25.12.1926, Nr. 308, S. 1.