Juli 14
Lassen Sie mich in Ruh. Der Krieg langweilt mich schon lange.
Leopold Graf Berchtold
Dies ist das stärkste Buch Emil Ludwigs – eine journalistische Leistung ersten Ranges. (›Juli 14‹, im Verlag Ernst Rowohlt zu Berlin.)
Journalistisch deshalb, weil Geschehnisse plastisch wiedergegeben werden; hier wird historische Reportage gemacht, und mit den besten Mitteln. Dieses Werk verdient die Auflage von Domela und Remarque zusammen.
Das Buch gibt eine Kette von Großaufnahmen: nämlich die der europäischen Kabinette, deren immense Kriegsschuld klargelegt wird. Dies ist die These des Buches:
Die Völker haben keinen Krieg gewollt, kein Volk hat ihn gewollt; durch die Borniertheit, Fahrlässigkeit und Böswilligkeit der Diplomaten ist es zu diesem »dümmsten aller Kriege« gekommen.
Diese These, über die zu reden sein wird, wird folgendermaßen belegt:
In Serajewo wird der österreichische Thronfolger ermordet. Der deutsche Kaiser entscheidet so: Österreich zunächst allein handeln lassen; Rumänien nicht vor den Kopf stoßen; Bulgarien heranziehen, Streit nach Möglichkeit lokalisieren – im ernsten Augenblick Bundespflicht. Die Wiener haben freie Hand.
Das nutzen sie aus. Sie unterschlagen sorgfältig das erste Ergebnis der Untersuchung: dass die Mitschuld der serbischen Regierung an diesem politischen Mord keineswegs feststeht. Sie stellen Serbien ein Ultimatum von äußerster Schärfe, von dem sie nicht nur wissen, dass es den Krieg bedeutet – von dem sie das auch eingestandenermaßen wollen. Selbst Franz Joseph, dieser böse, alte Mann, weiß das. Die Serben nehmen beinah uneingeschränkt an; der österreichische Botschafter in Belgrad prüft diese Annahme nicht mehr, sondern reist ab. Alles das macht Österreich auf eigene Faust.
Die Rolle der andern Großmächte ist noch niemals so klar, so formvollendet dargestellt worden wie hier. Die Regierungen Frankreichs und Englands vor allem tragen eine ziemlich schwere Kriegsschuld auf dem Buckel; nicht so groß wie die Wiens und Berlins, aber schwer genug.
London: Lord Grey hatte jahrelang mit der ›Entente cordiale‹ gespielt; dieser in den Formen strengster Ministerverantwortung vor dem Parlament aufgezogene englische Politiker wußte wohl, was er da tat; aber weil keine ›Verträge‹ vorlagen, so verschwieg er seine Arbeit vor dem Unterhaus, er ließ sie durchblicken, aber ratifiziert wurde nichts. Es waren ›moralische Verpflichtungen‹ ›faktische Verpflichtungen‹ – Staatsverträge waren es, leider, nicht. Die Situation blieb bis zum letzten Augenblick unklar, so lange, bis sie durch die maßlose Verblendung und den schlechten Willen der Deutschen geklärt wurde.
Paris: Hier hatte der russische Botschafter, Iswolski, ein echter böser Geist aus dem Bilderbuch der Politik, hervorragend gearbeitet. Ganz Frankreich war auf das Schärfste an Rußland interessiert: es hatte nämlich Milliarden in russischen Werten investiert. Poincaré, aus seiner lothringischen Jugend mit Ressentiment gegen Deutschland erfüllt, fürchtete Deutschland mit Recht, haßte es damals also. Es hatte sich reichlich verhaßt gemacht. In den entscheidenden Tagen schritt er in Petersburg die Fronten russischer Regimenter ab; in Petersburg, wo man nicht ganz fest entschlossen war, dem slawischen Bruder zu Hilfe zu kommen … man wartete lange, lange.
Die Engländer griffen zuerst ein – sie wollten vermitteln. Grey: »Ich rechne mit Bestimmtheit darauf, dass der österreichischen Mobilisierung die russische folgen wird. Dann scheint mir der Augenblick gekommen, im Verein mit Ihnen (Deutschland), Frankreich und Italien eine Vermittlung zwischen Österreich und Rußland eintreten zu lassen. Ohne Ihre Mitwirkung ist jede Vermittlung aussichtslos.« Grey stak in einer bösen Zwickmühle: durfte er dem Gegner drohen? Doch nur mit Berufung auf Bündnisverträge, die nicht offiziell waren; durfte er den Freund bestärken? Doch nur, indem er diese Verpflichtungen nun auch laut anerkannte … er durfte es nicht, er konnte es nicht, er tat es nicht.
Inzwischen lügt Wien munter weiter, Berchtold verschweigt den Deutschen, dass er bei einem Konflikt Gebietszuwachs für Österreich haben wolle; die Deutschen fahren fort, zu vertrauen – in ihrem bierseligen Glauben an das Prestige, an Nibelungentreue und an ähnliche Kinovorstellungen. Wien bricht mit Serbien die Beziehungen ab.
Ganz Europa fällt vergeblich Berchtold in den Arm. Rußland hat gebeten, das Ultimatum an Serbien zu verlängern; Grey will eine Konferenz; Rußland bittet um erneute Unterhandlungen – alles fällt ins Wasser: Berchtold will den Krieg, seinen Krieg, den Krieg der Offiziere, vor allem Hötzendorfs. Nun spult sich alles schnell ab – das ist im Buch herrlich wiedergegeben.
Ein paar Mal spricht Ludwig von den »ungelüfteten Räumen« dieser Kabinette; das ist das Wort. Nichts geschieht direkt, alles auf Umwegen – und auf was für welchen! Allen gemeinsam ist eine Vorsicht, die keine Umsicht, eine Ängstlichkeit, die nicht etwa Verantwortungsgefühl ist, denn vor wem hätten sich diese je zu verantworten gehabt! – es ist Diplomatie als Kunst um ihrer selbst willen. Aber es waren Stümper. Dazu fahrlässige Stümper. Pourtalès, der in Rußland Kaiser & Reich vertrat, gab in der Aufregung, für deren Vermeidung er hätte trainiert sein sollen, ein Konzept der deutschen Kriegserklärung ab, das – in Klammem – einen doppelten Wortlaut enthielt; so, wie in den Liebesbriefstellern ›er (sie)‹ zu lesen ist, standen hier zwei Modalitäten, und Rußland konnte sich aussuchen, wegen welcher das Deutsche Reich »die Herausforderung annahm«. Dann, am späten Abend, ruft Sasonow noch einmal in der deutschen Botschaft an: »Hier ist eben ein Telegramm des deutschen Kaisers angekommen – der suspendiert die Kriegserklärung! Was nun?« – Pourtalès: »Darüber bedaure ich keine Auskunft geben zu können. Vielleicht ist das Telegramm älter als das, in dem ich angewiesen wurde, die fragliche Erklärung abzugeben. Im übrigen muß ich bitten, sich an den amerikanischen Geschäftsträger zu wenden, der unsere Interessen übernommen hat. In vier Stunden reisen wir ab.« Ludwig fügt hinzu, und man sollte diesen Passus wie so viele andre des Buches rot drucken: »Aber nach verlornem Kriege wird der Herr Graf von der Nation weder wegen doppelter Kriegserklärung lächerlich, noch wegen Ablehnung der Kaiserdepesche verantwortlich gemacht werden.«
Und dann erschien die Verlustliste Nr. 1.
Dieses alles kann nicht mehr verdunkelt werden: schuld sind alle gewesen; die Verantwortung Österreichs und Deutschlands war besonders groß.
Emil Ludwig hat es seinen nationalen Kritikern gegenüber nicht leicht; hier werden sie ihre beiden Methoden anwenden: das Dokumentarische zuerst und das Philosophische hinterdrein anzuzweifeln. Erst werden die Philologen und die Historiker angerückt kommen, und wenn die die Jacke voll bekommen haben, dann sagt die zweite Schlachtreihe: Ja, aber der Kerl kennt das Magische im Germanen nicht … auf welchem Gebiet freilich jeder unschlagbar ist.
Diese grandiose Darstellung ist gespickt mit den buntesten und lehrreichsten Einzelheiten. Die ungeheure Schuld der Diplomaten liegt vor allem in ihrem grenzenlosen Hochmut. Sie wissen, dass sie nur auf den Knopf zu drücken brauchen … Sasonow: »Uns vorzuwerfen, dass wir Österreich nicht lieben!« Uns – wir – Österreich … aber die Angestellten, die Bauern und der Mann auf der Straße, sie wußten ja gar nichts davon; sie liebten weder noch haßten sie – sie kannten das fremde Land überhaupt nicht.
Jener prophetische Artikel aus der ›Berliner Morgenpost‹, der nicht mehr gebracht werden konnte, weil statt der Vernunft die Generalität regierte, wird zitiert: Der berliner Arzt Arthur Bernstein ist sein Verfasser – und darin steht alles, alles, wie es gekommen ist. Das war die Ausnahme. Wie es denn überhaupt für jeden, der aus der Geschichte lernen will, äußerst dienlich ist, einmal in die Bibliothek zu gehen und sich aus diesem Jahr 1914 die Monate Juli und August einer beliebigen deutschen Zeitung geben zu lassen – da könnt ihr aber was erleben! Die Ahnungslosigkeit vorher; die prompte Bereitwilligkeit umzufallen nachher – lest das und seht euch auch die Autorensignaturen genau an: ihr werdet sehen, dass es zum Teil noch dieselben Publizisten sind, und ihr schenkt ihnen immer noch Glauben? Dann verdient ihrs nicht besser.
Gut erkannt ist auch das allgemeine, auf allen Seiten vorhandene Bestreben, als der Angegriffene zu erscheinen. Alle, alle waren sie angegriffen; alle, alle verteidigten nur ihr Vaterland. (Zu Ende gesagt bei Karl Kraus: »Deutschland, die verfolgende Unschuld.« Gilt aber beinah für jedes Land.) Auch vom Kriegsverbrechen des ›Berliner Lokalanzeigers‹ ist die Rede, von dem einzigen wahren Kriegsverbrechen, das es für ein Strafgesetzbuch geben kann: von dem nämlich, die Menschen in den Krieg zu treiben. Es handelt sich um die Falschmeldung der deutschen Mobilmachung, die damals in Berlin verbreitet wurde; sie hat nicht wenig dazu beigetragen, die Nachricht verfrüht in die Hauptstädte Europas zu tragen … hier klebt viel Blut an den Druckmaschinen.
Es ehrt übrigens Emil Ludwig, dass er das grauenvolle Schicksal Gabriele Princips nicht vergessen hat –: dieser politische Attentäter ist schauervoll, in mehr als vierjähriger Dunkelhaft, zu Tode gefoltert worden; er ist an Tuberkulose gestorben und hat nie mehr das Licht gesehen.
Das Buch vermeidet im übrigen auf das erfreulichste die chronologische Untersuchung, wer um wieviel Minuten bei den Mobilmachungen schneller gewesen ist – ein Moment, auf das es nicht ankommt. Im ganzen bestätigt es die Kannerschen Schuldthesen, besonders diese:
»Im Jahre 1909 haben Deutschland und Österreich-Ungarn – in Form eines auf Befehl der beiden Kaiser und mit Zustimmung des österreichisch-ungarischen Ministers des Äußern und des deutschen Reichskanzlers geführten und bis zum Ausbruch des Weltkrieges immer wieder ergänzten und bekräftigten amtlichen Briefwechsels der beiden Generalstabschefs v. Moltke und Conrad v. Hötzendorf – ihrem defensiven Bündnis vom Jahre 1879 einen neuen, offensiven casus belli angefügt, in dem Deutschland Österreich-Ungarn mit seiner gesamten Heeresmacht zu Hilfe zu kommen versprach, für den Fall, dass Österreich-Ungarn durch ein militärisches Einschreiten gegen Serbien einen Krieg mit Rußland oder auch einen allgemeinen europäischen Krieg herbeiführen sollte, und für diesen Fall auch einen gemeinsamen Kriegsplan vereinbart (deutsch-österreichisch-ungarische Militärkonvention).
Nach dem Attentat von Serajewo hat die österreichisch-ungarische Regierung der deutschen angezeigt, dass sie nunmehr gegen Serbien militärisch einzuschreiten, also von dem neuen casus foederis Gebrauch zu machen beabsichtige. Deutschland hat dazu seine Zustimmung gegeben und in den Monaten Juli und August 1914 die ihm aus dem neuen casus foederis erwachsene Pflicht erfüllt.
Die von der deutschen Regierung am 28. Juli 1914 bei der österreichisch-ungarischen Regierung eingeleitete Vermittlungsaktion war nicht darauf angelegt, unter allen Umständen den Frieden zu sichern, sondern vielmehr für den Fall des Ausbruchs des Krieges zwischen den Mittelmächten und Rußland – Frankreich die Kriegsschuld Rußland zuzuschieben.«
Die Schuld der Diplomaten, ihre Fahrlässigkeit, ihr Dolus und ihre Dummheit stehen fest. Hier gibt es nichts zu deuteln.
Ist aber dieser grandiose Film, in einem atemraubenden Tempo abgedreht, vor uns abgelaufen, dann entdecken wir, dass es tatsächlich Großaufnahmen sind, die hier rollen. Großaufnahmen sind Ausschnitte. Die These, dass die Diplomaten am Schicksal Europas schuld gewesen sind, steht unumstößlich fest. Die These: »Die Gesamtschuld lag in den Kabinetten, die Gesamtunschuld auf den Straßen Europas« sichert dem Buch seinen begrüßenswerten Erfolg – denn sie schmeichelt dem Leser, macht sie ihn doch von jeder Verantwortung überhaupt frei; ›sie‹ haben das mit uns gemacht, und frohgestärkt gehen die Herren Wendriner und Kulicke ins Büro. Die These ist aber nicht ganz richtig.
Es fehlt zunächst der Hinweis auf die Machenschaften der Staaten in den Staaten: der Rüstungsindustrie. Dies ist kein Petroleumkrieg gewesen – es ging anfangs noch nicht um die Absatzgebiete; die Industrien hingen sich erst später an die Uniformknöpfe der Generale, um dem Konkurrenten die Erzlager und die Weinberge abzujagen … im Frieden hat die Rüstungsindustrie gearbeitet und gearbeitet, wie Morus uns das in seinem ›Basil Zaharoff‹ gezeigt hat. Es ist nicht wahr, wenn diese da behaupten, sie täten das zur Aufrechterhaltung des Friedens. Habt ihr schon einmal einen Kaufmann gesehen, der Milliarden in einen Betrieb investiert, den er niemals laufen lassen will? Das vermisse ich an diesem Buch. Und die Unschuld der Massen –?
Ludwig kann erwidern:
»Ein Teil der Massen ist damals richtig geführt worden, wie die von mir zitierten Stellen beweisen. Auch von diesem Teil sind natürlich Unzählige kriegslustig gewesen, weil sie aus der Tretmühle herauswollten … Ich bestreite es nicht, ich bekämpfe es nur. Ohne die Ideologie der frühem Zeiten, die vor allem die Technik heute überwunden hat, sind diese Instinkte aber nicht stark genug, vorzubrechen.
Man kann nicht ein Buch gegen alle Fronten mit einem Mal schreiben. Die Frage, ob dies andre da in einem Kampfbuch wie dem meinigen darzustellen oder besser zu verschweigen wäre, führt mitten ins deutsche Problem. Denn das Elend ist doch, dass sich bei uns jede Partei in sechs Gruppen spaltet. Ich würde mir durch eine Zersplitterung eine Wirkung ersten Ranges zerstören, um eine Teilwahrheit zu analysieren. Das ist es übrigens, was die Rechte in Deutschland fast immer vermeidet. Not kennt kein Gebot.«
So kann er sprechen und hätte so unrecht nicht. Aber dies sein Buch enthält eine Teilwahrheit.
Baut einer in jahrelanger Arbeit einen Apparat, der Todesstrahlen aussenden kann, stellt er ihn auf, richtet er ihn auf das Ziel – so kann man natürlich sagen, dass der letzte Mann, der zum Schluß auf den Knopf drückt, der Todessender ist. (Im vorliegenden Fall haben die Knopfdrücker am Apparat mitgebaut.) Aber es ist eine Teilwahrheit. Die Vorbereiter sind schuld – und die Vorbereiteten.
Die Vorbereiter: die deutsche militärische Erziehung; die bewußte Hetze zum Staatsmord in Schule, Universität und Kirche; das anarchische System, in dem die europäischen Staaten lebten und leben; die beispiellose Korruption, mit der die russischen Anleihen in das französische Volk gepreßt worden sind. Die ›Humanité‹ hat die wichtigsten Dokumente, die man in Petersburg gefunden hat, veröffentlicht; es ergaben sich gradezu schauervolle Beweise für die Verlumpung der französischen Presse (die Deutschen täten gut, hier den Schnabel zu halten; sie tun ähnliches, nur gratis).
7. November 1913
Streng geheim
An die Kanzlei der Kredit-Operationen, Finanzministerium, St. Petersburg.
Im Einvernehmen mit Herrn Davidov überreiche ich Ihnen anbei 27 Schecks im Gesamtbetrage von 100000 Francs, die mir von dem mit der Verteilung Beauftragten als Belege zugestellt wurden:
›La Lanterne‹ 42000 Francs
›L'Autore‹ 17000 Francs
›L'Evénement‹ 11900 Francs
›L'Action‹ 9000 Francs
›La France‹ 11000 Francs
›Le Rappel‹ 7000 Francs
›Le Gil Blas‹ 2000 Francs
›Paris-Journal‹ 1000 Francs
Die Russen in Paris klagten zu wiederholten Malen über die nimmersatte Frechheit der französischen Zeitungsverleger, die noch mehr und immer noch mehr haben wollten … und die es bekamen.
Die solchergestalt Vorbereiteten sind nicht minder schuld – aber in einem tieferen Sinne. Technik überwindet keine Instinkte. Scheintot schlummern sie … Da empfiehlt es sich, einmal des großen Sigmund Freuds Schrift ›Zeitgemäßes über Krieg und Tod‹ nachzulesen – es ist immer wieder erstaunlich, in welche Tiefen dieser große Psychologe zu steigen fähig ist. »Der einzelne Volksangehörige kann in diesem Kriege mit Schrecken feststellen … dass der Staat dem einzelnen den Gebrauch des Unrechts untersagt hat, nicht weil er es abschaffen, sondern weil er es monopolisieren will wie Salz und Tabak.« Anläßlich der Enttäuschung über die Menschen, die bei Kriegsausbruch, als hätten sie auf ein Stichwort gewartet, wie die Amokläufer losgingen; denn sie haben darauf gewartet; überall: »Den bisherigen Erörterungen entnehmen wir bereits den einen Trost, dass unsere Kränkung und schmerzliche Enttäuschung wegen des unkulturellen Benehmens unserer Weltmitbürger in diesem Kriege unberechtigt waren. Sie beruhten auf einer Illusion, der wir uns gefangen gaben. In Wirklichkeit sind sie nicht so tief gesunken, weil sie gar nicht so hoch gestiegen waren, wie wirs von ihnen glaubten.« Und das zeigt er auf: durch den Nachweis, dass die Unterdrückung der Urtriebe, die neben den zivilisierten immer weiter bestehen bleiben, einen derartigen Kraftaufwand von Verzicht erfordern, dass die dünne Kruste, durch Zwang und Überredung gebildet, leicht durchbricht – so ein Durchbruch ist ein Krieg. Da werden dann die ursprünglich weder guten noch bösen Triebe frei; nur treten sie hier nicht wie im Frieden als unterdrückte Neurosen oder als herausquellende Einzelfälle von Verbrechen auf, sondern sie werden (scheinbar) sozial nutzbar gemacht; der Staat hat es leicht, sich ihrer in seiner unsozialen Weise zu bedienen, und er tut es. Latent lag die Mordlust in jedermanns Brust; sie wartete auf ihren Tag. Der kam. Und da brach sie hervor.
Hier – und nicht etwa in dem schmählichen Verrat der Sozialisten – liegt der Schwerpunkt dieses Krieges, wie aller Kriege. Zutiefst liegt die biologische Veranlagung des Menschen; im Verhältnis zu ihr ist noch der Marxismus ein ideologischer Überbau.
Was Ludwig gegen die Diplomaten sagt, ist richtig, und als Teilangriff ist diese Schrift von nicht zu überschätzender Bedeutung – aber der brave Leser darf nicht freigesprochen werden. Er trägt sein gerüttelt Maß Schuld, wir alle. Gegen die Diplomaten? ja. Nur gegen die Diplomaten? nein. In diesem Haß ist mir zu viel Liebe.
Das sagt nichts gegen das Buch. Dieses Werk ist eine Tat; es ist doppelt dankenswert, dass Ludwig sie auf sich genommen hat – er weiß, welche Dreckfluten sich nun auf ihn ergießen werden. Der Mann hat Zivilcourage.
Er hat die einfache Wahrheit gesagt: wie die Diplomaten ganz genau gewußt haben, dass dieser von ihnen heraufbeschworene und nicht abgewendete Krieg sie ja niemals treffen würde, kaum einer von denen ist im Graben verreckt, wie das alles nicht für sie galt, was sie da anzettelten, sondern wie sie in unverschämter Dreistigkeit über das Leben der ›Untertanen‹ verfügten; wie sie niemals, niemals zu einer Verantwortung gezogen worden sind, die sie ewig im Munde führten.
Ist das besser geworden? Das ist nicht besser geworden.
Man sehe sich an, wie dieser Krieg in den deutschen Schulbüchern auf die junge Generation kommt; wie da mit klaren und eindeutigen Lügen gearbeitet wird; wie auch nicht in einem die schwere Mitschuld Deutschlands zugegeben wird. Nun ist das Schulbuch zwar nicht mehr das, was es uns in unsrer Jugend gewesen ist – aber seine Wirkung ist noch schrecklich genug. So ist der vorige Krieg vorbereitet worden; so wird der nächste vorbereitet.
Und man betrachte diese verlogene Erklärung der deutschen Regierung, die da ächzt und jammert; die wieder das Volk betrügt, wenn sie sagt: der Vertrag von Versailles bürde den Deutschen die Alleinschuld auf. Das ist nicht wahr. Der Artikel 231 tut nur etwas, wovor unsre Staatsmänner mit offenem Munde dastehen, weil sie das leider nie am eigenen Leibe erfahren haben: hier muß einmal einer für seine Taten einstehen. Leider trifft es die falschen. Ich halte den Vertrag von Versailles nicht für gerecht; habt ihr schon einmal einen gerechten Kriegsvertrag gesehen? Das ist das Risiko der Kriege, und die Deutschen sind immer schlechte Verlierer gewesen. Die Regierungserklärung ist gleichgültig; die Welt hat sich ihr Urteil gebildet. Es ist aus.
Das Buch Ludwigs aber verdient einen Sensationserfolg. Aus dem Wust der Kriegsdokumente, aus den lahmen Entschuldigungsmemoiren der Schuldigen, aus den Farbbüchern aller Regierungen, deren Fälschungen – mit Ausnahme Englands – nachgewiesen werden, Fälschungen, die das böse Gewissen der Kriegsverbrecher auf allen Seiten beweisen, ist hier die sonnenklare und wunderbar bewegte Darstellung eines Monats der Weltgeschichte erwachsen, der die »letzten Tage der Menschheit« einleitete. Es werden nicht die letzten sein. Daß aber solch »räudige Zeit«, wie Polgar sie genannt hat, nicht wiederkomme –: dazu hilft dieses außerordentliche Buch.
Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 23.07.1929, Nr. 30, S. 119.