Auf der Wiese
Nun bin ich aus den stillen, kalten Tälern heraus, in einem großen Halbkreis bin ich durch Andorra gezogen, und da stehe ich nun wieder in Bourg-Madame. Die weite Ebene –
Die Hitze brennt, ich habe den ganzen Vormittag Zeit; der kleine elektrische Zug, der nachher rings um dieses ungeheure Loch in den Bergen herumfahren wird, ist noch nicht da. Jetzt liege ich auf der Wiese unter den blitzenden Bäumen, ziehe Grashalme aus dem Boden und freue mich meiner Faulheit.
Das sind also die Pyrenäen? Sieh an. Wollen wir nochmal zurück … bis zum Ozean? Es war doch ein weiter Weg, wie? Wenn ich jetzt ganz grade in die Luft aufstiege, kerzengrade, sagen wir: tausend Meter hoch – dann sähe ich mit einem Zauberauge alle kleinen Kirchen in den Bergen. Es waren hübsche alte Gotteshäuser dabei; merkwürdig, was die Geistlichen damit machen. Immer steht neben den schönsten Schnitzereien Schund aus dem Fünfzig-Pfennig-Basar – sehen sie das nicht? Nein, sie sehen es wohl nicht. Was mögen das für Leute sein, diese Geistlichen?
Einmal, bei St. Girons, saßen drei in dem Verkehrsmittel, mit dem ich fuhr. Die Mutter dieses Wagens war eine Kleinbahn, der Vater ein Tourenomnibus. Da saßen sie also und beteten aus ihren Gebetbüchern. Sie hatten bäurische Gesichter. Und der Landmann verleugnete sich bei keinem; stand eine Kuh auf den Schienen, wurde eine Gänseherde vorbeigetrieben, dann ließen sie das Brevier sinken, der Geistliche sank mit, und zum Fenster hinaus sah ein interessierter Bauer, der die ländlichen Dinge kannte, sie scharf ins Auge faßte und abschätzte … Und dann beteten sie wieder. Einer blies die Luft von sich, als er fertig war: Uff! das wäre nun glücklich überstanden! Aber es sind tüchtige politische Agenten.
Und junge Geistliche habe ich gesehen, nein, Küken von Geistlichen, unsicher schwankend in den faltigen Röcken, unten sahen ein paar riesige Füße heraus. Es waren noch Jungen, man konnte sich diese Gesichter ganz gut bei einem Kellner, einem Handwerker, einem jungen Kaufmann denken … Aber wenn sie ein bißchen älter waren, dann lag auf dem Gesicht schon eine dünne Patina von Katholizismus: besonders um den Mund war das andre, etwas, das früher nicht dagewesen war, dieser Mund war wohl viel gebraucht worden. Und alle fünf Minuten verloren sie ihre Würde, wie man eine Mütze verliert, und wenn sie das merkten, setzten sie die Würde rasch wieder auf und sahen sich erschrocken um, obs auch keiner gemerkt hätte.
Die Armen! Werden sie wirklich niemals erfahren, was Frauenliebe ist –? Der katalanische Bauer sagt: »A oune femme faut oun homme, soit oun mari, soit oun amant, soit oun directeur de conscience.« Oun heißt ein – und das andre dürfte wohl verständlich sein.
Da hinten, in Bourg-Madame, schreit ein Esel. Der Kerl, der aufgebracht hat, dass Esel ›I – a‹ schreien, stammt aus der Stadt. Ein Bauer wäre auf solche Dummheit niemals verfallen. Ein Esel schreit überhaupt nicht – er pumpt. Er hat eine Pumpe im Hals und zieht Luft aus einem tiefen Brunnen. »Hüü – bcha … Hüü – bcha … « Vielleicht muß man ihn hinten am Schwanz ziehen, damit er vom so jämmerlich schreit.
Man konnte den Esel nicht sehen – der Eisenbahndamm lag davor. Das war eine merkwürdige Eisenbahn. In Aix-les-Thermes endet die Strecke, die vom Norden, über Foix, kommt; bis Bourg-Madame an der Grenze gibt es dann nichts mehr. Aber die neue Transpyrenäische Bahn ist stückweis schon da: da steht ein Tunnel von sieben Kilometern fix und fertig, die Eisenbahndämme sind aufgeschüttet, die kleinen Brücken über den Straßen und die Bahnübergänge, alles ist schon gebaut. Sogar die Schranken. Nur die Schienen lagen damals noch nicht da. Aber das Allermerkwürdigste war, dass um diese Bahn, die gar nicht vorhanden war, schon eine Luft lag, wie wenn sie da wäre: die Straße am Bahnhof sah schon aus wie die Bahnhofstraße, es roch nach Rauch, die Gegend unmittelbar an den Orten, wo die Schienen einmal hinkommen sollten, war langweilig.
Diese Bahn wird die Gegend aufschließen; daran ist gar kein Zweifel. Auch Andorra wird sein Teil abbekommen, denn wenn man so bequem nach Hospitalet fahren kann, werden viele Leute die kleine Republik besuchen. Glückliche Reise –! Und das ganze Land wird in Hotels ersaufen, denn es ist ein schönes Land, die Berge sind nicht zu hoch und nicht zu niedrig: es ist grade so etwas für Leute, die sich erholen wollen. Das liegt heute alles so versteckt … Frankreich stellt sich nicht hin und ruft; Seht! Wie schön ist es bei mir! Kommt einmal alle hierher! Nein, wenn du die Schönheit des Landes aufsuchen willst, dann mußt du sie suchen – findest du sie, ist es gut; findest du sie nicht, ists den Franzosen auch gleich. Aber das ist ja mit Paris genau dasselbe. Frankreich liegt nicht auf dem Präsentierteller.
Es ist ein großes Werk, das da in den Pyrenäen im Entstehen ist: die Elektrifizierung der Eisenbahn. Überall laufen riesige Rohre zu Tal, in denen das Wasser herunterpoltert, die Rohre sind fast alle braun und grün gefleckt, so dass sie von oben aussehen wie Landwege. Fliegerdeckung. Denn es gibt ja nichts, was nicht gegen die Zerstörung durch den schlimmsten Moloch der Welt geschützt werden müßte. Im Jahre 1910 haben sie mit der riesigen Arbeit begonnen. Zwei große Elektrizitätswerke sollen die Strecke versorgen: eins in Eget, beim Cirque de Troumouse, und das andre, in Soulom, das nimmt die Wasser von Cauterets und Pau auf. Das zweite verfügt über etwa zwanzigtausend Pferdestärken. Viele Strecken sind bereits elektrifiziert, und so wächst da in aller Stille eine moderne Eisenbahn.
Das nimmt natürlich den Gebirgsbächen, den ›gaves‹, mitunter die Kraft, und manchmal sieht man in den schönsten Tälern einen stillen Bach dahersäuseln: sein Bett ist ihm drei Nummern zu groß, er fließt artig dahin, mit wenig Wasser und ohne unnötiges Gebrause, es ist, als ob er sonntags zur Kirche fließt. Dem haben sie das Wasser abgegraben, und mit seiner Kraft kann ich oben schnell an ihm vorbeifahren.
Zerstört die Bahn die Poesie? Keine Spur. Sie verwandelt sie nur. Aber der Grund des Landes bleibt doch. Raymond Escholier, der lustig und bunt das Bauernleben beschreibt, erzählt einmal im ›Cantigril‹ von den zahllosen Kommissionen und Aufträgen, die so ein Postillion der alten Schule mit auf den Weg bekam. Die Pferde ziehen schon an, da wird ihm noch nachgerufen: »He! Sag Finotte, das Schwein beim Schwiegervater wird Donnerstag geschlachtet! Hörst du? Donnerstag … !« Und da ist die Postkutsche schon davongerasselt. Nun, das hat sich gar nicht geändert. Auf einer Kleinbahnstation stand im rinnenden, nachtdunkeln Regen der Zug, und im Lichterschwenken rief eine grelle Frauenstimme grade vor dem Wagen, in dem ich saß, den Schaffner an: »Was ist mit der Salbe für den Hund? Die ist wieder nicht mitgekommen! Sag doch, der Hund wär so krank!« – »Abfahren!« pfiff der Shaffner, aber ich konnte doch noch sehen, wie er ernsthaft mit dem Kopf nickte. Ob er sie mitgebracht hat? Darüber schlafe ich ein.
Als ich wieder aufwache, sagt mir der Wegweiser unter den Bäumen, wo ich bin. ›Nach Bourg-Madame 0,2 km … ‹ Wegweiser … Viele habe ich in den Bergen nicht getroffen. Auf manchen stand: ›Geschenk von Citroën‹ – und viele stammten vom Touring Club de France. Der nimmt heute noch, 1925, keine Deutschen auf, steht also an kleinbürgerlichen Vorurteilen dem Deutschen Alpen-Verein keineswegs nach. Es sind wohl überall dieselben Kommerzienräte und Geheimen Oberbaudirektoren, die bei solchen Dummheiten den Ausschlag geben.
Da kommt ein Mistkäfer angekrochen. Ich frage ihn, ob er weiß, wie er auf lettisch heißt. »Nein«, sagt er. Ich sage ihm: »Sie heißen Ssudebambel.« Ob er keinen andern Namen bekommen könne? Nein. Da kriecht er weiter –
Auf dem Weg geht eine Bauersfrau mit einem erheblichen Popo. In Andorra-la-Vella … da war im Gasthaus eine Frau bedienstet, die hatte eine leichte Andeutung von Steatopygie. (Der Deutsche Sprachverein: »Warum sagen Sie das nicht deutsch?« – Ich kann nicht. – »Warum nicht?« – So … – »Sagen Sies!« Fettsteiß. Sprachverein ab.) Dergleichen kommt bei Spanierinnen manchmal vor; ich weiß das aus den Büchern.
Ich weiß so viel aus Büchern über die Pyrenäen. Aber was habe ich gesehen? Was kann überhaupt ein Fremder sehen?
Ich denke immer: Wenn ein Berliner die Schilderung eines Amerikaners über seine Stadt liest, dann ist er amüsiert, gekränkt, geschmeichelt – aber auch ein bißchen unbefriedigt. Der Midi-Mann, der dieses Buch vielleicht in die Finger bekommt, der Pariser, dem ich zeige, was ich aus seiner Stadt nach Hause berichte, sie sagen bestenfalls: »Es sind keine groben Fehler in Ihrer Arbeit. So ungefähr sieht es aus.« Aber – aber es ist nicht das. (»Ce n'est pas ça« ist ein sehr guter französischer Ausdruck.) Es fehlt für den einheimischen Leser irgend etwas, er kennt das doch anders; es ist eben der Fremde, der das geschrieben hat, einer, der ›Sie‹ zu Paris sagt.
Der Engländer fährt durch Driesen an der Drüse und sieht, dass es ein kleines Amtsgericht hat, und schreibt sich das auf. Aber von dem Antrittsbesuch des Referendars, der da seine erste Station abmacht, von der einmaligen Wintergesellschaft bei Amtsrichters, vom Stammtisch und dem Knatsch mit dem Apotheker ahnt er nichts. Und wenn man es ihm zeigte, verstände ers nicht. Und wenn ers verstände, könnte ers nicht richtig wiedergeben. Und gäbe ers richtig wieder, dann faßten es seine Leser nicht. Weil es fremd ist, vom andern Ufer, und weil sie unter der abweichenden Form das Gemeinsame nicht wiedererkennen. Berliner Weißbier ist nicht exportfähig.
Ich habe immer Furcht, dass mich ein Baske, ein Katalane, ein französischer Unterpräfekt eines Tages auf der Straße anhalten wird, sich meine Notizen geben läßt, sie liest und dann spricht: »Mensch! Was weißt denn du –?«
Ist einer eine langweilige Type, dann nimmt er alle Tatsachen korrekt auf und darf schreiben: ›Reise durch die Pyrenäen‹. Jeder kann den Wittenbergplatz fotografieren, damit hat er alles gesagt und nichts.
Ist einer ein Kerl, dann steht er sich selbst im Wege, bei allen Schilderungen, und wenn er fertig ist, darf er nicht sagen: ›Reise durch die Pyrenäen‹. Er müßte sagen: ›Reise durch mich selbst‹.