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Was haben wir –?

Flake meldet sich zu Wort und ist, in Nummer 11 der ›Weltbühne‹ nicht für, nicht gegen die Deutsche Linke: er wünscht, ohne sie zu sein. Er diagnostiziert: völlige Hoffnungslosigkeit. Ich habe den Optimismus nicht mit Löffeln gegessen, aber so sehe ich das Ding nicht an.

»Wer soll die Linke bilden?« fragt er und antwortet mit der Liste eines Gemischs von Gothein über Gerlach bis zum Rechtsanwalt Obuch. Nein, so soll die Linke gewiß nicht aussehen. In dem von Hiller entworfenen Mindestprogramm ist zu finden, dass eben ein Minimum an wirtschaftlichen und politischen Forderungen aufgestellt wird – man kann nicht gut klarer, nicht gut weniger verblasen sein. Ganz etwas andres ist die Realisierbarkeit dieses Programms.

Ich sehe mit Flake, dass wir vor Leuten sprechen, die zunächst im Negativen völlig einig sind. Da gibt es unzufriedene Demokraten, Reformer, Verärgerte, lammfromme Pazifisten mit der Kornblume der Ethik im Knopfloch; zu diesen gehört übrigens Hiller nachweislich nicht. Er hat in seinem Buch ›Verwirklichung des Geistes im Staat‹ und anderswo immer wieder Kriege und Kriege unterschieden. Da gibt es Kritiker des Kaiserreichs, die nie zu Hause sind, wenn jemand in der Republik ein Haar findet – da gibt es von allem. Also: keine Gruppe, die etwa die Ambition haben könnte, morgen geschlossen anzutreten, die etwa präpariert ist, morgen die Macht zu übernehmen – nichts davon. Dergleichen ist überhaupt keine Partei.

Also was denn –?

Ein Ideenzentrum, das Energien ausstrahlt.

Ein Kräftepunkt, von dem aus Männer der befreundeten Lager angefeuert, vor Irrtümern bewahrt bleiben, vorwärts gepeitscht, mit der Nase auf Wichtiges gestoßen werden können. Ist das wenig –?

Von hier aus ist, wie Flake weiß, manches Schlagwort ausgegangen, manche Parole ausgegeben worden, die ihre praktischen Folgen gehabt haben. Wir hören sonst immer: Ah – Kandidaten auf einen Vorstandssitz! Warum auf einmal der Vorwurf, dass wir es in Wahrheit nicht sind?

In alledem scheint mir ein deutscher Intellektuellen-Fehler zu stecken.

Eine Politik, die sämtlichen deutschen Denkern gefällt, gibt es nicht. Darauf kommt es auch gar nicht an. Das, was in Deutschland heute ›geistige Diskussion‹ genannt wird, ist meist nicht mehr als ein Gesellschaftsspiel, und selbst der so gemäßigte Schönaich empfahl neulich einmal, nach Versammlungen keine Diskussionen zuzulassen, weil ja da jeder nur immer seinen kleinen Vers aufsage. Ich halte in der Tat die Geste des deutschen Geistigen, mit der er sich jedesmal zurechtrückt, wenn eine neu geschaffene Sache an ihn herantritt: »So, nun wollen wir einmal sehen, welche Zensur wir der Arbeit geben können; auch scheint die Gelegenheit nicht ungünstig, alles zu sagen, was ich über Staat, Film, Blumenpflege und Homosexualität ungedruckt im Busen hege« – diese Geste halte ich für unerheblich. Stellenweise (nicht bei Flake) für überheblich. Wir können noch dreitausend Jahre warten, bis jeder jedes gesagt hat – und zum Schluß sind wir auch nicht einen Deut weiter. Jeder Aktivismus hat zwar mit Doktrin angefangen, jede Tat mit dem Gedanken. Der Fehler ist nur, dass die Deutschen so lange bei der Theorie stehen bleiben, bis die andern gehandelt haben.

Sicherlich sind wir unter uns, wie Flake mit leichtem Spott zitiert. Sollen wir ostpreußische Regierungsräte in die Deutsche Linke bitten? Oder Herrn Hindenburg das Ehrenpräsidium anbieten? Selbstverständlich meint Flake nicht das, sondern er beklagt, sicherlich mit einigem Recht, die mangelnde Auswirkung der von hier ausgehenden Ideen. Aber wir bemühen uns ja grade, diese Ideen in die handelnden Gruppen hineinzutragen. Das glückt nicht immer – es ist aber schon oft geglückt, und wir werden auch weiterhin Erfolg haben.

Bleibt als Hauptgrund für Flakes Austritt unsre Zusammensetzung.

Aber ich würde bis zum letzten jede Meinungsverschiedenheit nur dann durchpauken, wenn wir eine aktive politische Partei wären. Meint er, ich hätte keine trennenden Bedenken gegen manche, die hier schreiben, so wie sie gegen mich, wie viele von uns untereinander? Ich kämpfe aber diese Turniere, bei denen sich die Ritter ständig umeinander drehen, nicht mit. Hier gibt es nur eins: Ehrlichkeit und Überzeugtheit, und das innerhalb eines Mindestprogramms.

Und Flake –? Den Ausweg, den er für sich gefunden hat, habe ich nicht verstanden; ich weiß nicht, wie man unter Ausschaltung der Politik seine Kraft darauf verwendet, Charaktere, die nicht stur sind, und Menschen, die Menschen sind, zu bilden – ich weiß es deshalb nicht, weil mir das Modewort ›Menschen‹ nichts mehr zu besagen scheint. »Ich mache den Strich darunter und erkläre für erledigt, was niemand lösen kann. Neue Methoden, neue Menschen, Menschen.« Es ist nicht schwer, etwas für erledigt zu erklären. Aber es ist nicht erledigt. Um so vorzugehen, wäre ein bethlehemitischer Greisenmord nötig. Flake weiß, dass sich Gesellschaftskörper nicht mit einem Schlag neu formen, sondern, von ganz seltenen Ausnahme- und Glücksfällen abgesehen, sich durch stete Ergänzung und Einschiebung des Neuen umbilden. Und so genau, wie ich weiß, dass es auch unter uns, wie überall, Leute gibt, die ihrer Zeit nicht mehr gewachsen sind, so wie ich denke, dass auch meine Stunde einmal kommt, in der ich ›die Welt nicht mehr verstehe‹ – so gewiß weiß ich, dass die einfache Radikalforderung nach einer neuen Welt eine Forderung der Literatur ist. Mondland, Utopia, Fortschrittsroman von Bellamy, darin Müdigkeit, Sehnsucht und lasch wollendes Gemüt ihre Befriedigung finden.

Ein Mann wie Flake hat freilich Anspruch darauf, nicht mit dem Wort »Fahnenflucht« angeprangert zu werden. Er ist geistig frei und muß wissen, was er tut. Nur ist ein Mann ohne eine Deutsche Linke genau so denkbar wie die Deutsche Linke ohne den Mann – und das Ganze ist die Privatangelegenheit eines, der gute Gründe zu seiner Haltung hat. Flakes Redlichkeit, sein Mut, seine hilfreiche Aktivität sind so oft zu groß gewesen, als dass ich mir einfallen ließe, seine stets wertvolle Meinung einfach abzutun. Er mag mir aber erlauben, seine zweifelnde Frage: »Deutsche Linke?« mit der müden Antwort: »Nein« als das zu charakterisieren, was sie ist: eine Familienanzeige.

Wir andern wollen weiter. Weiter in der klaren Erkenntnis, dass wir niemals eine klassenkämpferische Partei in Deutschland überflüssig machen; dass es Blindheit wäre, etwa an Kommunisten und Sozialdemokraten, die es noch sind, vorbeizugehen; dass jeder von uns, bei Wahlen und politischen Handlungen aller Art, ohne Bedenken einer Parteidisziplin gehorchen solle, wenn die nur förderlich ist; weiter in der Erkenntnis: dass wir ohne die Massen nichts sind. Denn der denkende, rechtschaffene, Ja und Nein scheidende Charakter, von dem Flake spricht, ist alles, wenn er eines Tages mit der arbeitenden Klasse zum Handeln übergeht.

Vor uns liegt, um nur das Allernächste zu nennen: die Abwendung der Enteignung des deutschen Volkes
durch die Fürsten
das neue Strafgesetz
diese Reichswehr
diese Richter
dieser Strafvollzug.

Arbeit genug. Andre sind mit uns, denen Stärkung willkommen sein mag.

Wir wollen unsre Arbeit tun und uns nicht beklagen, dass wir einen Kameraden verloren haben. Kehrt er wieder, wird er uns immer willkommen sein.

Kurt Tucholsky
Die Weltbühne, 06.04.1926, Nr. 14, S. 524.