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O'Neill, ›Seltsames Zwischenspiel‹

Der dritte Abend war eine richtige, besmokingte Premiere ›Seltsames Zwischenspiel‹ von O'Neill im Deutschen Künstlertheater.

Es waren alle da, die da glauben, wenn sie da seien, seien alle da – und die Türen klappten in die ersten hundertundzwanzig Takte dieses Spiels, denn der Berliner kann gar nicht eilig genug zu spät kommen, und dann fing es an und entpuppte sich als ein seltsames Zwischending: außen Psychoanalyse und innen Lavendel. Und noch dazu eine ›jewish science‹, für den Salon der feineren Leute präpariert: – »Ich hasse meine Mutter« ist so ziemlich der Höhepunkt dessen, was jene bis auf die Seelenlosigkeit entkleideten Gesellschaftsmenschen auszudenken wagen. Eine sauber shampoonierte Psychoanalyse. Und das uns, in Europa? Nächstens wollen wir deutschen Kaugummi nach den Vereinigten Staaten ausführen. Lags an der Übersetzung? An der nur braven Regie lags gewiß.

Den herrlichen Forster hatten sie auf einen falschen Platz gestellt – er war fehl am Ort: was da herumging, war weder Forster noch die Figur, die er zu spielen hatte. Er wuchs von Szene zu Szene – aber nicht zu sich. Haben diese Regisseure keinen Instinkt?

Aber da ist die Elisabeth Bergner. Die war langsam auf dem Wege gewesen, Parodie ihrer selbst zu werden – dabei hat sie Nachahmerinnen genug. Bei diesem Leerlauf, dem sie zu verfallen drohte, traten leichte und dann schwere Mängel auf: Monotonie des Gemaunzes, Hysterie zum Hausgebrauch und ein ganz leichter Buckel. Nichts mehr davon. Eine Schaumgeborene, nein: eine Erdgeborene stieg aus den Wellen. Und sie riskierte etwas.

Wie sie den ersten Satz dieser dummen ›innern Monologe‹ spricht, die in Wahrheit alte biedere Theatermonologe sind; wie sie starr dasteht, auf ihren schwatzhaften Vater sieht und sagt: »Er soll nicht so viel reden«; wie sie liebt und haßt, ihr Kind und ihre Liebe austrägt; wie das Einfachste und Gleichgültigste in ihrem Mund zum Ausdruck eines Schicksals wird –: das hat uns wieder gezeigt, dass das Theater nicht tot ist. Es ist nur blutarm, dabei überfüttert mit Kunstpräparaten, aber es lebt. Noch … ?

Was am Theater ›schon‹ ist, steht dahin; sein Publikum ist zum großen Teil ›noch‹.

In die Untiefen O'Neills wurde oft und zu wiederholten Malen hineingelacht. Was ist es mit diesem Publikum?

Das berliner Publikum kommt sich sehr skeptisch vor; es ist aber in seinen großen Teilen nicht einmal naiv. Sieht man von dem ›Klub der Dazugehörigen‹ ab, so gibt es für die Majorität der Galerie im Parkett eherne Gesetze der Wirkung. Zum Beispiel diese:

Worte, die tags zuvor in der ›B. Z.‹ gestanden haben, sind komisch. Das Wort ›Aspirin‹ darf in keinem tragischen Satz vorkommen – es wird gelacht (wie früher bei ›Dackel‹, ›Schwiegermutter‹ und ›Synagoge‹ gelacht worden ist). Dazu kommt, dass der Berliner – und insbesondere der berliner Jude – Pathos nur noch verträgt, wenn es ihm, wie Arnheim das hier einmal ausgedrückt hat, durch einen hinterher fallenden Witz belohnt wird. Ja, Pathos dient auf vielen Bühnen überhaupt nur dazu, eine trockne Schlußbemerkung einzuleiten, wobei wiederum ein niedriger Begriff von Schadenfreude die Hauptrolle spielt. Es ist in den deutschen Umgangsformen so vieles besser geworden, die Leute sind glatter und höflicher, sogar viele Beamte sind es, wenn es sich nicht grade um verschwiegene Polizeireviere handelt … aber unausrottbar sitzt in diesen Köpfen der Grundsatz: Um etwas zu gelten, behandele den andern wie Reis am Absatz. Nichts hatte an dem O'Neill-Abend so viel Erfolg wie jene als gedachte Randglossen gesprochenen Sätze, die den Gegner heimlich beschimpfen. »Wie geht es Ihnen gnädige Frau?« (beiseite): »Alte Schraube!« – Das ist kein Bühnenscherz – das ist eine Weltanschauung.

Das berliner Publikum sieht in jedem Stück, neben allem andern, auch noch eine deutsche Posse, eine, wie sie etwa Guido Thielscher um Weihnachten herum zu spielen pflegt, mit: »Himmel, meine Frau!« – und: »Schnell in den Kleiderschrank!« – es ist für einen Bühnenautor beinahe unmöglich, ja es ist für ihn ungeheuer gefährlich, diesem Parkett Dinge des Alltags tragisch zu servieren. Hierzu gehört eine erhebliche Rückversicherung an Ironie, sonst geht das schief.

Sie lachen wie Schulkinder, wenn der Lehrer (der vorigen Generation) von einem Nachttopf spricht. Sie lachen, wenn da oben gesamt wird: »Wir haben zur Zeit eine erhebliche Hausse«, denn, hihi, jeder Mensch weiß doch, dass Kunstseide und Oberbedarf … haben Sie heute abend gelesen … ? Sie lassen sich nicht gern bezaubern, sie bringen ihr eigenes Leben mit und wenig Bereitwilligkeit für das fremde, und sie messen, was ihnen geboten wird, nur an ihrem kleinen Privatdasein. Wie stark muß ein Dramatiker sein, um diese zu unterwerfen!

O'Neill, geborener Joyce, geschiedener Ibsen, verwitweter Sudermann ist solch ein Dramatiker nicht. Wenigstens nicht in diesem Stück, dessen aufgeklebte moderne Fassade über den Grundriß nicht täuschen kann. Den Berliner schon gar nicht, der seine ihm unangenehmen Gefühle dem Pathos gegenüber gern mit einem Stoßseufzer durch die Nase abzureagieren pflegt. Nur der Respekt vor Frau Bergner verhinderte ein Malheur; wunderbar geduldig hörten sich tausend erwachsene Menschen eine ausgewachsene Kinderei an.


Die erste Theaterstadt der Welt? Sie hat alle Anlagen, es zu sein, sie war es, und sie kann es wieder werden, wenn man davon absieht, dass anderswo nur schlechter und nicht besser Theater gespielt wird: sie hat ein Publikum, das sich auf die Dauer nichts vormachen läßt; sie hat eine verklüngelte und beeinflußbare aber auf die Dauer unbestechliche Kritik – und sie hat eine Fülle von Schauspielern, die ein beachtliches Niveau sichern, ein Niveau, das hier wesentlich höher liegt als etwa in Paris. Berlins große Schauspieler kann man an den Händen aufzählen.

Lasset uns applaudieren, wenn sie gut gespielt haben – und auf den Fingern pfeifen, wenn sie statt in unserer Zeit in einer Aktualität von Schlagzeilen leben.

Peter Panter
Die Weltbühne, 12.11.1929, Nr. 46, S. 738.