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Schiller, ›Don Carlos‹

Mein zweiter Abend war ein abendlicher Abend: Auf dem Zettel des Staatstheaters stand ›Don Carlos‹ – aber gegeben wurde ›Der Kaufmann von Madrid‹. Soll man, um Zuschauer und Dichter einander nahe zu bringen, das Publikum heben oder den Dichter popularisieden? Jeßner hat seinen Schiller nach Berlin W 50 versetzt.

»Nicht aus Willkür«, belehrt mich das Programmheft, »sondern aus der Erkenntnis und der Resonanz zweier Aufführungen heraus entstand diese dritte Inszenierung.« Ich mag die Regisseure nicht, die die Stücke zuschneiden wie die Wintermäntel. Wenn Jeßner den Carlos anders sieht als Schiller, dann möge er uns ein neues Stück schreiben – den Schiller lasse er so, wie er da ist. Resonanz? Das heißt auf deutsch: Angst. Jeßner wills allen recht machen – er machts keinem mehr recht. Vor wem hat er Angst?

Das berliner Theater ist eine Klubangelegenheit von etwa zweitausend Menschen; das Publikum ist gut genug, die Ränge zu füllen, zahlen soll es auch – aber eigentlich stört es. Es versteht ja doch nichts. Wichtig ist die Kritik.

Die Kritik der Tageszeitungen wird vom Publikum gelesen wie ein Vergnügungsanzeiger, daher wir denn nur mit einem einzigen Wort wirklich abschrecken können: nämlich mit dem Wort ›langweilig‹. Alles andere kümmert Herrn Wendriner und Frau Generaldirektor Gasteinicke überhaupt nicht. Wohl aber kümmert es seltsamerweise die Theaterdirektoren. Die engagieren einen Künstler nicht wieder, weil Kerr ihn nicht mag, und reißen sich nach einem, den Ihering gelobt hat, und nach der Premiere fiebert der ganze Klub: »Was hat Monty Jacobs gesagt? was Norbert Falk? Wissen Sie, dass Hollaender … ? Na, Pinthus wird doch nicht … « Ein Wunder, dass die Besatzung nicht samt und sonders größenwahnsinnig wird – Anlaß dazu hätte sie reichlich. Am Ende werden wir noch erleben, dass eine Schauspielerin nach der Premiere bei drei Kritikern anrufen läßt, die lachen den Anrufer nicht aus sondern geben ihm wirklich ihre Kritiken vor dem Erscheinen, die Schauspielerin liest, atmet auf, wird mit Kamillentee zu Bett gebracht … es geht nirgends so komisch zu wie auf der Welt. Und wenn der Intendant des Staatstheaters nicht nur vor dem lächerlichen Apparat kuscht, der ihm etatsmäßig aufgebürdet ist (welch Winter seines Mißvergnügens!) – wenn er nicht nur mit diesen gehobenen Obersekretären paktieren muß, von denen eine Mandel so viel leistet wie zwei geschickte Sekretärinnen eines Privattheaters – wenn er nun auch noch ängstlich prüft, ob Fritz Engel von seinem Platz alle Versatzstücke gut sieht und was wohl dieser Kritiker zu seiner Inszenierung sagen wird und jener –: so spricht daraus nicht etwa das Bestreben, aus den Kritiken zu lernen – es ist und bleibt Furcht. Was entsteht so? So entstehen Kompromißlösungen. Die deutsche Rechte, deren Angriffe auf Jeßner dem Mann bisher viel Rücksichtnahme von links her eingetragen haben, die Rechte, die nicht weiß, wo Gott wohnt, hat den Intendanten in einem falschen Verdacht: der sitzt brav in der Mitte, wie der Generalsekretär eines großen Verbandes, der mit ›realen Gegebenheiten rechnet.‹ Keine Sorge: dieses Staatstheater kostet uns zwar viel Geld, aber es repräsentiert wenigstens aufs beste die Regierung, die ihrerseits kein besseres Theater spielt.

Dieser ›Carlos‹ hatte einen Schillerschen Darsteller – einen einzigen.

Da war kein König. Der da als König Kaftan der Erste durch die Szenen ging: Kortner, ist ein Schauspieler von großer Kraft, ein ganzer Kerl, eine Potenz, aber nie, niemals ein König. Er steht in Reiterstiefeln – seine Beine können nicht reiten. Er gibt seine Befehle wie einer, der bisher hat gehorchen müssen und nun ängstlich wartet, ob sie auch tun werden, was er sagt. Er brüllt – aus Unsicherheit. Er trumpft auf – aus Schwäche. Er ist kein König. Man hat es, oder man hat es nicht. Er sehe bei Werner Krauß, was das ist: ein Herrscher; wie man noch im zweireihigen Jackett, mit Packard und Radio, ein König sein kann.

Das Stück hatte keinen Carlos. Es hatte keinen Posa. Es hatte keinen Domingo – es hatte keinen Kardinal, nur einen Schauspieler, der einen Kardinal zu geben hatte, es hatte keine geistige Spannung, und es konnte sie nicht haben – denn es hatte vor allem einmal keinen, der die Sprache dieses Stücks sprach, keinen, der sie sprechen konnte. Außer einem.

Dieser eine war der alte Kraußneck. Das ist ein Schauspieler, über den ich vor zwanzig Jahren bestimmt einen kleinen Witz gemacht hätte – wegen seines zu dick aufgetragenen, edeln Bibbers, wegen der Theaterallüren einer schon damals versunkenen Zeit … das ist gewiß wahr. Aber wenn er heute, inmitten dieser Stimmen in Zivil, seinen Mund aufmacht, so tönen aus diesem Mund Verse – gewichtige, echte und volle Schillersche Verse, Kraußneck hat das nämlich gelernt; er weiß, was ein Vers ist – es ›stimmt‹.

Bei den andern stimmt es gar nicht. In diesem Haus saß einst auf seinem angestammten Parkettplatz der alte Fontane und schrieb schon damals ein paar entzückende Sätze über die »märkischen Kommandostimmen«, die so gar nicht zum Pathos passen wollten. Verse –? Bei Jeßner wird eine etwas verwickelte Prosa gesprochen, denn sehn Sie mal, man spricht doch auch an der Börse nicht in Versen, immer hübsch vernünftig – was heißt hier: Verse! Die Königin zu Carlos, vom König: »Der Ihnen das größte Reich zu Erben gibt!« Carlos: »Und Sie zur Mutter.« Er will sagen: Ja, er gibt mir ein großes Reich. Er gibt sogar noch mehr: dich, meine Geliebte, gibt er mir. Und nun, die beiden Worte, die alles töten: zur Mutter. »Und Sie zur Mutter« sprach Herr Doktor Carlos so, wie etwa Hans Waßmann eine Pointe fallen läßt, in einem Wort, schnell, nebenbei hingenuschelt. So spielt man keinen Schiller.

Man spiele ihn meinethalben gar nicht, wenn man ihn, was er nicht ist, für überholt hält. Kann man aber die geistige Spannung zwischen diesen funkengeladenen Personen nicht herstellen, dann lasse man die Hände von einem gebändigten Vulkan wie diesem. Die berühmte Stelle »Der König hat geweint« war keine Stelle – und welch ein Augenblick ist das! Das, Leopold Jeßner, ist Theater! Und was haben Sie daraus gemacht? Vier Worte – nichts, nichts. Früher lief der Schauspieler auf der Straße wie ein gekränkter Napoleon herum; heute spielt er den Napoleon wie einen gekränkten Stationsvorsteher. Aber wenn einer böse ist, so ist er noch lange nicht königlich. Und welche Sprachtechnik! Bei uns wird auf der Bühne gemauschelt oder berlinert – nun laßt uns einmal hochdeutsch hören. Und wo sonst, wenn nicht an einem Staatstheater?