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Saint-Jean-Pied-de-Port: Die Basken

Ein Graf von Montmorency rühmte einst vor einem Basken das Alter seines Namens, seines Adels, seiner Familie, rühmte, von welch großen Männern er abstammte. Der Baske erwiderte: »Wir Basken, Herr Graf: wir stammen überhaupt nicht ab!«

So alt dünken sie sich. Sie haben es gut: man kann ihnen nichts beweisen. Man weiß nicht, wer sie sind, weiß nicht, woher sie stammen, was für eine Sprache das ist, die sie sprechen – nichts. Denn kein Latein, keine romanische, keine nordische Sprache hilft dir hier. Eine Sprache, in der die Worte:

»Wer durch diese Türe tritt,
mag sich wie zu Hause fühlen«:
Atehan psatzen dubena bere etchean da

heißen – die ist für uns wohl nicht zu enträtseln. Es hat sie auch keiner enträtselt. Versucht habens viele. Eine unaufgeklärte wissenschaftliche Sache? Das läßt keinen deutschen Professor ruhen. So sehen wir denn eine ganze Reihe Deutscher unter den Forschern Eskual Herrias, wie die Basken ihr Land nennen: Wilhelm von Humboldt verstand und sprach baskisch, und Hübner, Uhlenbeck, Linschmann, der Begründer einer Baskischen Gesellschaft zu Berlin; Phillips, Schuchardt in Graz und viele andre haben an diesem Rätsel gearbeitet. Gelöst hats keiner. Es gibt da Schulen und Gruppen; erste Theorie: die Basken seien vom Süden gekommen, zweite: sie seien vom Norden gekommen, dritte: sie seien Asiaten … für alles gibt es Beweise, für nichts gibt es Beweise. Nur für eine traurige Sache gibt es ein Anzeichen: diese Sprache kann eines absehbaren Tages aussterben.

Zunächst bildet sie sich schwer fort. Sie formt keine neuen Wörter für neue Begriffe, und wenn die Basken ›Bleistift‹ sagen wollen, so müssen sie sich, da die Sprache das Ding nicht kennt, des französischen Wortes bedienen, dem sie die baskische Endung ›a‹ anhängen: ›crayona‹. Die alte Generation sprach nur baskisch, und ich habe Leute gesehen und ihnen zugehört, mit denen ich mich gar nicht verständigen konnte; die jüngere Generation versteht fast durchweg französisch und spricht also beides – aber es gibt schon junge Leute und ganze Dörfer, da ist es aus, und die baskischen Forscher unter den Franzosen schildern mit Trauer, wie man sie auf Forschungsreisen von einem Dorf ins andre geschickt hat: Ja, bei uns spricht man nicht mehr baskisch … Aber vielleicht in Izaba … Die Sprache kann erlöschen.

Die Rasse sobald nicht. Sie sind ungefähr fünfhunderttausend Leute, nicht mehr – vier Provinzen liegen auf spanischem Boden, drei auf französischem: Labourd, das ist die westlichste, mit Bayonne und Saint-Jean-de-Luz; Nieder-Navarra mit Saint-Jean-Pied-de-Port und Soule mit Mauléon. Die Basken kehren sich nicht an die bürokratische französische Departementseinteilung, die ja offiziell alle die schönen Namen wie Bretagne, Normandie überhaupt nicht kennt, sie nennen ihre Provinzen mit den alten Namen. Aber so stolz sie auf sich sind: es ist nichts Aggressives dabei, und eine ›baskische Frage‹ gibt es nicht. Hier will niemand erlöst werden, weil sich niemand bedrückt fühlt.

Der erste Eindruck ist, mitten im Gebirge: Seeleute. Für dieses Gefühl gibt es keine rationale Begründung; ihre Gesichter, ihre ruhige Art, sich zu geben, die selbstbewußte Kraft, die innere Freiheit – alles das läßt an das Meer denken, an Fischerboote und Hafenmenschen. Ob ihre Vorfahren ein seefahrendes Volk gewesen sind – wer weiß das. Aber der Unterschied zum Franzosen aus dem Binnenland ist außerordentlich groß. Die Männer sehen gut aus, sie haben schmale Köpfe, durchgearbeitete Züge, man fühlt bei jedem Bauernkopf: das ist einer für sich!

Die Sitten waren lange ganz patriarchalisch und sind es zum Teil heute noch. Der pater familias hat eine unbegrenzte Regierungsgewalt, die Frau dient, aber ungedrückt; das Züchtigungsrecht der Eltern wird fast bis zur Volljährigkeit der Kinder ausgeübt. Ich habe mich erkundigt, ob denn nicht die Tatsache, dass viele Basken im französischen Heer in so ganz andern Gegenden gedient hätten, diese Familienverfassung langsam über den Haufen wirft. Man hat mir mit Nein geantwortet, und ich denke, dass das richtig ist. Diese konservative Tradition hat ihren guten Grund.

Großgrundbesitzer gibt es in diesen Landstrichen wenig, die Bauern sind frei. Aber sie haben alle das größte Interesse daran, sich ihren Landbesitz ungeschmälert zu erhalten, und dem steht das französische Erbrecht entgegen, das kein Fideikommiß kennt. Was nun –?

Nun haben wir dieselbe Erscheinung wie damals beim preußischen Landadel, als sein Fideikommiß gesetzlich abgeschafft wurde. Die preußischen Adligen wie die Basken: beide Gruppen halten das alte Familienrecht durch Übereinkunft fest, die benachteiligten Erben verzichten, und es gibt bei beiden Gruppen keinen Fall, wo die jüngern Geschwister dem Altesten das Vatergut durch einen Prozeß streitig machten, den sie unfehlbar gewinnen würden. Die Eltern verschaffen dem Ältesten die Möglichkeit, den Jüngern ihren Erbteil abzukaufen, manchmal wird diese Schuld hypothekiert; ist ein Sohn im geistlichen Stand, so verzichtet er als Angehöriger einer Kirche, die an dieser alten Landeinteilung auf das äußerste interessiert ist – auf alle Fälle umgehen sie das ihnen unbequeme Gesetz. Der Landbesitz soll ungeteilt erhalten bleiben. Und er bleibt erhalten. (Auch in Andorra habe ich etwas Ähnliches gefunden.)

Dieses Land der Basken nun ist weich, angenehm, begrünt und wellig, soweit es vor den Pyrenäen in der Ebene liegt, wie überhaupt der Fuß dieses Gebirges das Schönste ist, was ich dort zu sehen bekommen habe, und das fast überall: von Bayonne bis Perpignan, vom Atlantischen Ozean bis zum Mittelländischen Meer. Les Basses-Pyrénées bergen noch genug Klüfte und schwierige Bergspitzen, davon hält sich der Landbesitz natürlich fern. Ihre Häuser sind geweißte Steinbauten unter zierartiger Verwendung von dunkeln Holzbalken – die modernen Architekten haben diesen Stil für Villen und Landhäuser der Gegend adaptiert. Diese Holzbalken finden sich hauptsächlich in Labourd; in Navarra weniger, da sehen die Häuser düstrer aus und in Soule sind sie lediglich aus Stein. Alle Häuser stehen mit der fensterlosen Rückwand nach Westen, von da kommt der böseste Wind. Die Kirchen konnte man so nicht bauen, wollte man nicht mit allen liturgischen Vorschriften brechen: die Kirchentür ist also häufig durch eine Mauer gegen den Wind geschützt.

Fast alle Häuser haben kleine Balkons. Es gibt elende Bauernbaracken und gepflegte Häuser, die gut im Stand sind. Die Kirchen haben mitunter merkwürdige alte Glockentürme, in denen primitiv die Glocken baumeln. Und sie haben innen etwas sehr Merkwürdiges: Galerien für die Männer. Diese Trennung wird sonst nicht oft gefunden, und sie hat einen eigentümlichen Grund.

In den baskischen Provinzen gibt es viele Schafe. Wenn man nun wissen will, wo in Frankreich im Mittelalter die Zauberei zu Hause gewesen ist, so braucht man sich nur auf der Karte die Gegenden anzumerken, wo Ziegenbock und Schafbock vorkommen – dann hat man sie unweigerlich. Diese Zauberei, deren letzte Rudimente heute noch in plumpem Aberglauben vorhanden sind, ist rein katholischen Ursprungs: es ist sozusagen eine gotische Magie. Da ist keinerlei Beeinflussung vom Osten her, nichts Asiatisches – es ist der gute alte römische Teufel, der da sein Wesen treibt. Bauernmagie ist eine verwickelte Sache: ein so flacher Materialist wie der Herr Hellwig aus Potsdam, Landgerichtsrat und preußischer Spezialist gegen Okkultismus, würde nicht viel Ersprießliches aus ihr herausholen. Nun gab es im zwölften Jahrhundert eine Ketzerbulle nach der andern, die auf das arme Land herunterdonnerte – die Kirche rückte auf einmal in den Mittelpunkt des Interesses; da reichten die Kirchenräume nicht aus, und in dieser Zeit hat man die Galerien angebaut. Man findet diese schweren alten Holzgalerien in fast allen baskischen Kirchen. Eine besonders schöne, dreistöckige in der großen Kirche zu Saint-Jean-de-Luz, das in der Nähe von Biarritz am Meer, kurz vor der spanischen Grenze liegt; dort ist Ludwig der XIV. getraut worden, und auch das Haus Haraneder steht noch dort, in dem die Infantin Maria-Theresia vor ihrer Hochzeit gewohnt hat.

Die Kirche spielt eine große Rolle in diesem Lande, das freiwillig fromm ist. Protestanten gibt es kaum – wenn man ›die Stadt‹ oder ›das Dorf‹ sehen will, so braucht man sich nur nach der Sonntagsmesse vor die Kirchentür zu stellen. Da strömen sie denn alle heraus. Aber gar nicht in bunter Landestracht, romantisch, trutzig, wie aus dem Roman. Die städtische Kleidung überwiegt; die Bauern tragen ihre schwarze Bluse wohl auf dem Viehmarkt, aber nicht am Sonntag, und nur das ›béret‹ trägt jeder. Das ist eine runde Mütze, ohne Rand, ohne Schirm, sie sieht aus wie ein Eisbeutel aus Tuch, mit einem kleinen Zippelchen oben drauf, manche pariser Kinder tragen etwas ganz Ähnliches, und viele Autofahrer. Bergstiefel sieht man kaum – die ›espadrilles‹ sind weiße Sandalen, den Strandschuhen nicht unähnlich, der Fuß geht in diesen dünnen Tuchüberzügen außerordentlich sicher, und an die Steinchen gewöhnt man sich rasch.

Aber man mag sich noch so oft vor die Kirchentür stellen: eine vollständige baskische Sippe wird man nicht zu sehen bekommen. Einer fehlt immer. Und der ist in Amerika.

Die Auswanderung ist in der Tat sehr stark. Die Basken sind gute und erfahrene Viehzüchter, und man muß sich diese Auswanderung ja nicht als ein Notventil gedrückten Proletariats vorstellen. Freie Bauern gehen hinüber, um Geld zu machen: nach Kalifornien, um Hammel zu züchten; nach Argentinien zu den Rindern und die Minorität nach Chile, um Handel zu treiben. Es sind hauptsächlich die jüngern Söhne, die auswandern, die, die nicht erben und die im eignen Lande nicht in fremde Dienste treten wollen. Drüben finden alle sofort Anschluß: einen Onkel, einen Freund, einen Bruder. Und das Allermerkwürdigste ist: sie kommen alle zurück. Sie sparen in Amerika das Geld, das sie in den langen, einsamen Weidemonaten nicht ausgeben können und nicht ausgeben wollen – sie kommen als ältere Leute zurück mit durchaus beachtlichem Vermögen, das heute, der Valuta wegen, größer ist als vor dem Kriege; viele haben zu Hause eine, die auf sie wartet und nicht umsonst wartet. »Les Américains« heißen die Zurückgekehrten, und man zeigt mit Stolz ihre hübschen Landhäuser. Es sind zielbewußte Leute.

Was tun nun diese baskischen Bauern abends und am Sonntag, wenn sie nicht arbeiten?


Als ich nach Saint-Jean-Pied-de-Port kam, klebte an allen Ecken ein blauweißes Plakat: Morgen, Sonntag:

LA PELOTE

La Pelote ist für den Basken, was für den deutschen Stammtischler der Skat, für den Spanier der Stierkampf, für den Franzosen das ManilleSpiel: Leibund Magenzweck seines Hierseins. »Man sollte die Basken in einem Turm bei Silber und Gold konservieren!« sagte eines Tages ein Bewunderer des Landes. »Ja«, erwiderte ein Baske. »Aber es muß ein Pelotenspiel im Turm geben!« Ein Ballspiel – aber was für eins!

Im kleinsten Dorf steht ›le fronton‹: eine viereckige graue Steinmauer, sie steht frei, oben ist sie zierlich geschwungen, davor ein freier Platz. Auf dem springen die Spieler umher, die ›pelotari‹, sie schlagen, entweder mit der Faust oder mit der chistéra, einem schnabelartigen, gehöhlten Schläger, den kleinen steinharten Ball an die Mauer, von der er mit scharfer Wucht zurückspringt. Es spielen vier oder sechs Mann: zwei oder drei auf jeder Partei. Es wird abwechselnd geschlagen: Partei A gibt, der Ball springt zurück, Partei B hat ihn aufzufangen und zurückzuschleudern, wiederum A und so weiter. Die Schärfe, mit der sie schlagen, wird nur noch von der Behendigkeit übertroffen, mit der sie den kleinen, fliegenden, grauen Punkt auffangen und zurückschleudern. Die Anstrengung für den ganzen Körper ist sehr groß: das Spiel ist Tanz, Sport, Athletik und Kopfarbeit in einem. Eine Pelote –? Hin.

Am Sonntagvormittag steckten alle pelotari in der Kirche. Ein bekannter Spieler war angekündigt, Léon Dougaïtz; eine begehrockte und uniformierte Sportkommission war auch anwesend, mit einem richtigen General. (Es kann aber auch ein Feldwebel gewesen sein – ich kenne mich in diesem Klan nicht so aus.) Die kleine Kirche war gedrückt voll, unten die Frauen, oben auf den Galerien brummten und sangen die Männer. Ein junger Geistlicher betritt die Kanzel. Er spricht über … ? Johannes? Matthäus? Markus? Er spricht über die Pelote von heute nachmittag. Sein leichter Versuch, diesen Sport mit Mystik zu umkleiden, mißlingt: es ist einfach ein ziemlich geschickt gesungenes Preislied auf ›uns Basken‹. Eine Masse kann man gar nicht deutlich genug loben: aber da ist schon jener kleine fatale Funke von zu genauer Kenntnis über sich selbst. »Wenn ein Fremder heute in die Kirche käme, so würde ich ihm sagen: Sieh dir diese Ballspieler an, den Kern unseres Volkstums … « Schon faul. Das sicherste Zeichen dafür, dass mit einem Volksgebrauch etwas nicht in Ordnung ist, sind Lehrer- und Pfarrervereinigungen zu seiner Konservierung. Niemand tut etwas für den Gebrauch von Tinte, und einen Verein zur Erhaltung des weichen Umlegekragens gibt es nicht. Nur Sachen, die sich nicht von selbst verstehen, werden so hallend betont. Der Prediger lobt also seine Ballspieler – und das ist durchaus keine Entweihung des Gottesdienstes: gibt es doch viele baskische Äbte und Vikare, die selber mitspielen. Mit hochgerafften Soutanen springen sie umher und sind nicht einmal die schlechtesten beim Spiel. Wie ja überhaupt der katholische Geistliche dem Volk viel näher steht als der fast stets etwas säuerlich reservierte protestantische Pfarrer. Katholische Kirchen sind immer geöffnet, protestantische nur sonntags. Die Geistlichen auch. Und so predigt eben dieser über das Ballspiel. Wohlwollend hält er die Hände darüber hin; denn was die Kirche nicht verhindern kann, das pflegt sie wenigstens zu segnen.

Chorgesang, Schluß, alles strömt auf die Gasse.

Mittags gehe ich ein bißchen durch die Stadt. Saint-Jean-Pied-de-Port liegt hügelig-befestigt; was außerhalb der alten Fortifikation steht, ist hübsch, aber belanglos. Eine schnurgrade, grüne Allee führt auf die Berge zu. Aus dem Hause des Notars perlt Mozart. Das Wetter ist schön und still.

Das ist der Friedhof – da stehen die eigenartig geformten Grabsteine: auf niedrigem Fuß eine runde dicke Scheibe. Schrift und Verzierung wirken in ihrer Verwitterung wie Runen. Auch das Hakenkreuz kann man in baskischen Inschriften finden – gewiß ein schönes Beispiel für seine Popularität. (Wohl selten ist ein geschichtliches Symbol schmutziger mißbraucht worden.) Und welch merkwürdige Namen auf den Steinen stehen! Maria Ladeveze, Landerreiche Gabriel, Kurutze Hunen – –

Hier in der engen krummen Straße, die so bergan steigt, liegt ein Haus, in dessen Keller war einst das Gefängnis, in das die Bischöfe ihre besten Feinde stecken ließen. Ein hoher, fast dunkler Raum – ein paar Halseisen hängen noch an den Wänden. Ein Kabuff ist abgeteilt – das ist völlig schwarz und ohne jede Luftzufuhr, mit einer dicken Holztür. Da saßen die zum Tode Verurteilten, lange Wochen, und warteten auf ihre Hinrichtung.

Aber es ist unmöglich, irgendwo auf der Welt ein Gefängnis zu sehen, ohne daran zu denken, was deutsche Richter mit politischen Kämpfern treiben und treiben lassen; wie bei uns gefoltert wird, körperlich und unkörperlich; wie Angeklagte in Deutschland vor Gericht behandelt werden.

Oben auf dem Hügel liegt das Fort. Das ist ein alter Kasten mit Zugbrücke und stillem, weißem Hof, in dem das Gras wächst. Nur ein alter Arbeiter wohnt noch da. Aber es sieht alles so reinlich aus und nur wenig zerfallen – und man liest Inschriften an allen Türen und Plakate in den Stuben … was ist das? Hier in der Zitadelle staken im Kriege ungefähr fünfhundert deutsche Kriegsgefangene, aber weil Fluchtversuche vorkamen, fünf, sechs, zur nahen spanischen Grenze: so wurden sie bald wegtransportiert. Nach ihnen zog ein französisches Strafbataillon ein, ›des fortes têtes‹, besonders widerspenstige Leute, die von einem Loch ins andere flogen. Ich sehe ihre engen Steinzellen, die sie sich selbst gebaut haben, es muß eine böse zweite Garnitur gewesen sein. Der Schullehrer hat sie gesehen und erzählt noch lachend von ihnen: tätowiert waren sie wohl fast alle, aber einer hatte sich seinen Kriegswahlspruch: MERDE auf die Stirn einbrennen lassen, und wenn ihm ein Caporal oder ein höheres Tier einen Befehl gab, der ihm nicht paßte, so schob er einfach seine Kappe hoch, dass die Stirn freilag, und der andre konnte ihm so von den Gesichtszügen ablesen, was er zu sagen hatte. Man kann sich dem nur vollinhaltlich anschließen.

Nachmittags um vier Uhr steigt die Pelote. Ausverkauft. Kein Wunder in einem Lande, wo an jedem vierten Haus zu lesen steht: Défense de jouer à la pelote! – denn keine Mauerwand bleibt von den Jungen verschont, die einmal Matadore des Landesspiels werden wollen. Der junge Geistliche, der gepredigt hat, sitzt bei den Öppersten, die Sportkommission ist auch da. Zum Glück ist die Pelote noch überall mehr Spiel als Sport. Es gibt allerdings schon Vereinigungen mit Kommissionssitzungen und Komitees, mit Disqualifikationen und Jahreskongressen – aber das Publikum liebt das Spiel, das Spiel in der frischen Luft, sein Spiel, und schert sich den Teufel um den lächerlichen Kram der Organisation. Jede Zeit hat ihren Hanswurst: der unsre blickt mit gefurchter Stirn und düstern Brauen auf spielende Leute und legt sich und denen eine Bedeutung bei, die er mit ›Hebung der Pferdezucht‹, ›Ertüchtigung der Jugend‹, ›Disziplinierung des Geistes‹ und andern schönen Sachen umkleidet. Nichts ist alberner als dieser von Brillen und glattrasierten Aktuaren präparierte Sport, bei dem die Ausschußsitzung das Wichtigste ist. Soweit ist es da unten noch nicht.

Die beiden Parteien treten an. Zwei spanische Basken: ein Kleiner und ein Langer, und auf der andern Seite Léon Dougaïtz, der Franzose, mit Partner. Der Mann sieht aus wie ein Maurerpolier, er hat einen unternehmenden, weichen Schnurrbart, trägt weißes Hemd, Espadrillen, aber wie alle diese Spieler kein béret. Sein Partner ist ein stämmiger junger Mensch. Es wird ohne chistéra, mit den bloßen Händen, geschlagen. Die Spieler treiben, um die Gelenke zu ölen, die ersten Bälle an die Mauer. Anfangen? Anfangen.

Eine Kapelle spielt. Léon gibt. Er steht mit der Nase zur Mauer, einen Meter von mir entfernt, und schlägt den kleinen Ball mit einer unbegreiflichen Wucht an den Stein. Der Ball flitzt zurück, hinten wird aufgepaßt, sie boxen ihn vor. Und nun spielen sie.

Sie springen vor und zurück, manchmal bewegen sie sich kaum, und besonders Léon, der vorn spielt, scheint gar nicht aufzupassen, wann der Ball kommt. Daß er ihn trifft, darum ist ihm wohl nie bange – aber ob der Schlag auch kräftig genug sein wird? Der Schlag kann einen Ochsen töten – es wird so leicht, so elegant geschlagen. Sie tragen keinen Schutz an ihren Händen.

Das Publikum paßt auf wie die Schießhunde. Wenn der Ball von hinten nach vom fliegt, drehen sich alle Gesichter mit genau der gleichen Wendung nach vorn: es sieht aus, als wären alle diese Köpfe auf Stöcke gesetzt und von einem Mechanismus bewegt. Sie kritisieren sehr genau, und ein klein bißchen Lokaleitelkeit ist wohl auch im Spiel. Neulich haben die Spanier gewonnen – wirds Léon ihnen geben? Léon gibts ihnen. Dabei ist er keine Kanone, sondern nur gute Feldartillerie –, aber der einzige, der mit Kopf spielt. »Bravo, Léon –!« Sein Gesicht bleibt glatt und gleichgültig, sein Hemd ist naß, der Schweiß hat den groben Stoff in durchsichtige Seide verwandelt, ein Schuh ist durchgestoßen und wird unter allgemeinem Hallo ersetzt … weiter, weiter!

Das Publikum bildet eine schöne Einheit, es sind wohl wenig Fremde darunter. Man kennt sich, man lacht sich an, drei Freunde, ein Dicker in der Mitte, sitzen Arm in Arm und sehen einer feinen Dame, die gewiß hoch zu Automobil hergekommen ist, ironischbewundernd nach. Männer untereinander sind eine harmlose Gesellschaft. Ein Mönch von Grützner steht da: ein dicker Bauer mit einer Knubbelnase, hochrot, ein agiler, sanguinischer Alter. Er ist über irgendeine Sache im Spiel furchtbar aufgeregt und wirft abwechselnd die Hände über dem Kopf zusammen oder seine Mütze unter Geschrei in die Luft. Er hopst und tanzt aufgeregt auf seinem Platz und ist Feuer und Flamme. Es ist aber auch ganz schrecklich, was da vorgeht! Die Spanier holen ihren Verlust ein –! Das darf nicht sein! Nein! Pause.

Die Spieler bekommen Wein zu trinken und schwitzen zum Davonschwimmen. Der Mönchs-Bauer hat sich langsam beruhigt, und der Dicke unterhält sich mit Freunden über acht Bänke hinüber.

Und bevor es wieder anfängt, hat die Kapelle ein Lied intoniert, eins, das alle mitsingen, eins von den Liedern, vor denen man sofort spürt; dies ist viel mehr als ein Schlager, das ist ein Volkslied. Sie wiegen sich im Sitzen auf ihren Plätzen, viele summen nur mit, wie man etwas summt, von dem es nicht erst lohnt, die Worte noch auszusprechen. Sie summen gewissermaßen die Worte. Da strahlt die buttergelbe Spätnachmittagssonne durchs Gebüsch und über die hohen Bäume, der Himmel ist blitzblau, die Kapelle bläst, gleich werden sie anfangen, zu spielen – und ich fühle: Dies ist einer von den Nachmittagen, der mitgedacht wird, wenn die Basken denken: Heimat! Dieses Glück, mit keinen Worten ausdrückbar, in nichts anderm bestehend als eben in der fünfhundertsten Wiederholung dessen, was schon die Väter und deren Väter Sonntag nachmittags getrieben haben – in nichts anderm als in einer Vereinigung, die nur zu Hause möglich ist: dieser Schein der Sonne und kein andrer, dieses Lied und die geschweifte Ballmauer, die vertrauten Bänke und die altvertrauten Scherze und Zurufe – das sind die Stunden, nach denen sich der Baske in Amerika sehnt, wenn er zurückdenkt: an den Ballplatz, die Pelote und an noch etwas: er wird Freunde auf der Welt haben, auch anderswo, gewiß. Er wird sie gern haben. Aber er wird nirgends, nirgends auf der ganzen Erde, noch einmal dieses Zusammengehörigkeitsgefühl haben wie hier, die Tuchfühlung, den tiefen Ruck im letzten Winkel der Herzgrube: Heimat.

Merkwürdig, wie eng dieses Heimatgefühl ist. Hier hat kein Staat die Finger und die Fahnen hereinzustecken – niemals meint man ihn, wenn so gefühlt wird. In Deutschland habe ich dieses Empfinden besonders in der frankfurter Gegend und in Hamburg angetroffen; auch die Berliner wollen es für sich in Anspruch nehmen. Otto Reutter, der verflossene Coupletsänger, der im letzten Hosenknopf mehr Witz und Humor hatte als heute ein ganzes Weincabaret mit garantiert exklusivem Publikum, Otto Reutter hat im Laufe seiner vierhundertachtundachtzig Couplets auch eines gesungen, das den Refrain hatte: »Da bin ich stolz, dass ich ein Deutscher bin!« – Und die siebzehnte Strophe dieses Liedes schilderte, wie er in einem feinen französischen Seebad abends auf dem Kai spaziert und sich plötzlich eine piekfeine Halbmondäne an ihn heranmacht.

Die Kurkapelle spielt so ihre Weise,
die Dame drängt sich sachte zu mir hin …
»Na, Dickchen, auch aus Preußen –?« sagt sie leise.
Da bin ich stolz, dass ich ein Deutscher bin –!

»Bravo, Léon –! Bravo, Léon –!« Léon hats gemacht. Die Spanier haben eins aufs Dach bekommen, aber man spendet ihnen ritterlichen Beifall. Alles trubelt durcheinander, keiner geht. Es wird noch getanzt.

Das Orchester setzt sich auf die Zuschauerbänke: ernste schnauzbärtige Männer, denen man solch einen Lärm gar nicht zutrauen möchte, und eine ›xülüla‹ hat sich dazugetan, eine kleine gellende Flöte. Der Spielplatz ist jetzt frei. Und die Männer tanzen.

Diese ›baskischen Sprünge‹ werden ausschließlich von Männern getanzt. Auf den baskischen Festen zu Mauléon im Jahre 1896 hat ein junges Mädchen mitgewirkt, und das ist eine Sensation gewesen. Da diese Tänzer hier nicht in Festkleidung – weiß mit roter Schärpe – sind, so nimmt sich der Tanz absonderlich genug aus. Sie bilden einen Kreis und tanzen, jeder für sich. Ein Dicker walzt da sein Fett auf und ab, dass einem himmelangst wird, ich zum Beispiel sehe Schlaganfälle nur ungern. Ein Junge tanzt entzückend, er hält den Oberkörper ganz still und tanzt so leicht! Bald dreht sich der Kreis links, bald rechts herum, sie berühren sich aber nicht mit den Händen, sie tanzen ganz allein. Beifall. Bis –!

Bis.

Darauf: Fandango. Den tanzen, immer ohne sich anzufassen, zwei kleine Gruppen, aus zwei Männern bestehend.

Aber nun bleiben die Männer nicht allein. Zwei Spanierinnen, die hier zu Besuch sind, haben sich dazu gesellt und tanzen den Fandango. Auf einmal wird klar, was der Tanz eigentlich ist und bedeutet; er bekommt Farbe und hat offenbar einen weit, weit entfernten Verwandten bei den Mauren: den Bauchtanz. Aber die jungen Mädchen tanzen so diskret, sie schnipsen mit den Fingern, weil niemand Kastagnetten hat, sie wenden sich und drehen sich, schneller, schneller … Die Spanierinnen haben ihren Spezialbeifall. Die jungen Herren ziehen einen sauren Mund: das ist eine unehrliche Konkurrenz. Mit Röcken … Und das Ganze von vorn.

Nach jeder Pelote wird getanzt – das ist so. Und ebenso traditionell sind die beiden Männer, die das Volk dabei in allen Pausen ansingen: die Improvisatoren. Sie sind immer zu zweien: und es ist stets eine Art Sängerkrieg, den sie miteinander haben. Besingt der eine ›Die Freuden des Junggesellen‹ so der andre ›Die Freuden des Ehemanns‹; ›Automobil und Ochsenkarren‹ – ›Meer und Land‹ – ›Wasser und Wein‹ – ›Sandale und Holzschuh‹, das sind herkömmliche Themen. Herkömmlich auch, dass man sie lange bitten muß, anzufangen – sie zieren sich, lange. Dann aber hören sie nie wieder auf. Sie begrüßen an diesem Nachmittag erst alle Erschienenen, werden heftig belacht und beklatscht und treten nach jedem Tanz aufs neue in die Mitte. Sie heben beim Vortrag die Arme, ihr Gesang ist stets ein Rezitativ, und jede Strophe besteht aus vier langen Zeilen mit dem gleichen Endreim. Darauf sind sie besonders stolz – vier Reime! Die spanischen Basken nehmen die Zeile länger, bis zu zwanzig Silben – welch ein Atem! Als sie fertig sind, will ich mich mit den beiden unterhalten. Mit dem einen wird das nichts werden – er versteht nur baskisch. Der andre erklärt mir, was sie gesungen haben. Er sagt, es gehöre viel Routine und Schlagfertigkeit dazu, und Nachfolger gebe es wenig. Rostand habe ihn noch gehört und sei voller Bewunderung für seine Reimfertigkeit gewesen. »Ist das nun ein scharfer, witzgespickter Streit, den ihr da habt?« frage ich. »Il faut toujours respecter l'autre«, sagt er. Und dann gehen alle Abendbrot essen.

Sie essen nicht schlecht. Sie trinken einen kräftigen, etwas säuerlichen Wein; auch den Wein von Jurançon, der aus der Gegend von Pau kommt, findet man überall im Lande, er ist gut und mild. Auf dem Markt und unterwegs trinken die Bauern und Hirten aus Lederflaschen, kleinen Weinsäcken, die den Wein schön frisch halten.

Abends ist Ball auf dem Marktplatz. Er ist festlich mit Lampions beleuchtet, und bald rutscht und schleift alles, besonders unter einer dunklen Baumreihe. Wo ist die Grazie der Kreistänzer geblieben? Dieselben jungen Leute, die eben noch so hübsch ihre Landestänze getanzt haben, anspruchslos, ohne die leiseste Pose, tanzen jetzt Foxtrott und Twostep, und auf einmal ist alles vorbei. Das sind gar keine jungen Bauern mehr – das sind Arbeiter aus der Vorstadt, die verrutschte Kopie nimmt ihnen alles und gibt ihnen nichts. Ich habe einmal im Holsteinischen Bauernburschen und Bauernmädchen moderne Tänze tanzen sehen – ihre schweren Füße bumsten auf den Boden, und ihre Grazie glich der junger Kälber. Es war zum Gotterbarmen. Etwas Ähnliches geht auch hier vor. Denn das, was da herankommt, ist unentrinnbar. Die weinerlichsten Schilderer der baskischen Eigenart müssen zugeben, in jedem Buch dreimal; es verschwindet! Alles das verschwindet. Sprache, Eigenart, Sitten und Gebräuche, Aberglaube – denn man mache uns doch ja nicht weis, dass sich dergleichen bei einer so umwälzenden Umgestaltung der Erde erhalten kann! Ihr fahrt in der Stadt Untergrundbahn, und der tumbe Bauer soll ewig derselbe bleiben, ewig derselbe. Er wird euch was husten.

Immerhin vollzieht sich hier die Umwandlung leise, leise. Aber bei aller Erhaltung der Eigenart: als die Reblaus die Weinberge verwüstete, und die Amerikaner eine neue Pflanze auf den Markt brachten, da waren doch die konservativsten Basken dabei, die neue einzuführen. Chicago siegt – ihr könnt machen, was ihr wollt. Gute Nacht, Marktplatz.

Am nächsten Tag wimmelt er von Vieh. Welch eine Qual für das Vieh, so ein Markttag! Nein, ich bin nicht wehleidig, und sie werden ja auch geschlachtet – aber es ist doch ein Stück Arbeit, mit der sie sich den Tod erkaufen. Die Schweine während eines stundenlangen Marschs hinten mit einem Strick an die Wagen gebunden und furchtbaren Spektakel vollführend, immer mit jener Komik, die ein Schwein für unsere Augen auch im Sterben nicht verläßt; in der Sonne liegt eine Reihe Enten, sie klappen die Schnäbel auf und zu und gluckern nur noch leise, vor Durst, eine Kuh beleckt ihr Kälbchen, dem sie das Maul mit Stroh umwickelt haben, damit es jetzt nicht trinke. Die schreckhaften Schafe werden von den Käufern befühlt. Welch scharfe, feine Bauernköpfe! Welch gute Gesichter! Welch ruhiger, selbstbewußter Ausdruck

in den Augen! Diese Leute versetzen einen in Wohlbehagen.

Mittag essen manche, die zum Markt gekommen sind, im Hotel. Das hat ein hohes Zimmer, mit einer großblumigen, hellen Tapete – und die schwarzrockigen Bauern heben sich scharf von der Wand ab. Sie sitzen und essen, gut und reichlich und nicht zu schnell; ein Violinspieler kommt und geigt ihnen etwas vor, vielleicht ein Bauer, der ins Unglück geraten ist, sein Kind sammelt mit dem Teller und bekommt seine Sous. Am Ecktisch sitzen Majors. Pensionierte Offiziere scheinen auf der ganzen Welt gleich zu sein. Alle haben sie diese anständige, etwas verblühte Frau, die unschöne, eckige Tochter, und Papa bestellt so laut Käse, als ob er eine Brigade kommandiere. Aber dieser ist harmlos und brav und hebt nur dann und wann den quadratischen Soldatenschädel, um nach dem Rechten zu sehen.

Draußen geht ein Seminarist vorbei. Man hat ihm lateinische Gebete beigebracht, die er auswendig hersagen kann, ohne sie zu verstehen, er trägt sein Gebetbuch unter dem Arm.

Heute hat er die Konkurrenz nicht mehr zu befürchten, die seinen Vorfahren so viel Mühe gemacht hat: den Jansenismus, der hier geboren ist. Die Pyrenäen haben religiöse Phänomene in Fülle hervorgebracht: der Spanier Loyola hat auf der spanischen Seite sein erstes Haus gebaut, und man weiß, was daraus hervorgegangen ist. Und ehemals waren die Basken in Religionssachen ein recht kriegerisches Volk: die Abgesandten des Bischofs von Oloron, eines der ersten Calvinisten der Gegend, wurden in Mauléon zunächst mit Eseln umritten, und als der Alte selbst kam, um den Schimpf zu rächen, schlugen sie ihn mit einer Hacke tot.

Das mit dem erschlagenen Bischof aus Oloron ist kein Einzelfall. Die mittelalterlichen Stadt- und Landfehden waren hier, wie überall, von großer Grausamkeit. Da haben sie einmal an die sechs oder sieben Basken, die aufgemuckt hatten, an die Adourbrücke in Bayonne gebunden, bei Ebbe, und die haben warten dürfen, bis die Flut zu ihnen hochstieg. Es waren Vater und Sohn darunter, und das ganze Volk stand am Ufer und wartete auf das herrliche Schauspiel. Den Sohn faßte es zuerst; er gurgelte schon, da beschimpfte der Vater die Henker, Sie warfen ihm das linke Auge mit einem Stein aus, aber die Flut kühlte das rasch sowie das übrige.

Da am Brunnen haben zwei Männer einen großen Disput. Ob das Baskische schön ist, kann ich nicht beurteilen. Es klingt nicht schön und nicht häßlich. Seine Liebhaber und besonders die baskischen Schriftsteller selbst überschätzen natürlich die ihm innewohnende Poesie, die wie jede Sprachpoesie subjektiv empfunden wird. Einer erzählt, wie viele Gedichte sich mit der Jagd auf Holztauben beschäftigen. Holztaube heißt auf baskisch: usua. Der Baske setzt hinzu: »Dieses Wort ›Holztaube‹ besagt wenig. Um die ganze Poesie von ›usua‹ auszukosten, muß

man … « Gar nichts natürlich. Diese Lokalverzücktheit, ehrlich und begreiflich, erinnert mich immer an die Vortragenden in den deutschen Konzertsälen, die fremde Volkslieder vorsingen und vorher, sich leicht niedlich machend, den Inhalt auf deutsch erzählen. »Das Mädchen kommt morgens an den Brunnen und sagt: O Brunnen! Wie läufst du doch so schön, du guter Brunnen! Wo aber ist mein Geliebter hingelaufen? Weißt du das vielleicht? Wenn du ihn triffst, du guter Brunnen, dann grüß ihn doch von mir!« Des freut sich das Parkett – und man ist ganz verwundert, wenn nachher ein reizendes kleines Lied aufsteigt, bei dem es einem vollständig gleichgültig ist, ob der Brunnen plätschert oder nicht, und dessen Rhythmus und Farbe schon das ihrige tun. Volkspoesie kann man nicht übertragen. Man kann sie bestenfalls nachschaffen.

Nicht nur an der Sprache merkt man, dass man in einem besondern Winkel Frankreichs ist. »Bei Gott!« will die Hotelfrau zu mir sagen, und um das noch mehr zu bekräftigen, hebt sie die rechte Faust über den Scheitel, der kurze Unterarm liegt nahe am Kopf. Ich frage später nach dieser wilden Tomahawk-Geste. Es sind die baskischen Schwurfinger: »Bei Gott … !« Und nun weiß ich, dass sie gelogen hat.

Sie gelten für nicht sehr zuverlässig, die Basken, und vielleicht trügt der erste angenehme Eindruck. »Die Leute in Bayonne«, sagte mir einer in, aber nicht aus Bayonne, »sind liebenswürdig, freundlich und falsch wie Galgenholz.« Nun, das sind Urteile … Auch andre sind nicht gut auf sie zu sprechen und sagen ihnen eine Habsucht nach, die ich nicht zu spüren bekommen habe.

Wie sieht ein Volk seine Stämme an? Für die französische Salonliteratur ist das Baskenland, wie übrigens auch Andorra, eine herrliche Gelegenheit zu unkontrollierbarer Romantik. Pierre Lotis berühmter ›Ramuntcho‹ (224. Auflage) ist eine parfümierte Sache, die nach sehr gutem Feldblumenparfum duftet – aber eben nach Parfum, und nicht nach Feldblumen. Merkwürdig: mäßige Schriftsteller behandeln den Bauer entweder ganz leicht von oben herunter, mit liebevollem Wohlwollen – ›Machs gut, braver Mann!‹ – oder sie packen in die Bauernseele einen Klumpen Mysterium hinein, der da gar nichts zu suchen und gewiß nichts zu finden hat. Man hat manchmal das Gefühl, als habe sich Loti alle landesüblichen Ausdrücke des Baskischen auf einen Zettel notiert und habe nun eine seiner Liebesgeschichten zur Abwechslung in dieses Kostüm gesteckt. Auch ist bei ihm die wilde Gebirgsleidenschaft diskret gemäßigt, so dass sie noch in den besten Salons genossen werden kann. Und wenn der Held auch bis an den Hals im Kummer steckt: immer edel, immer edel! Ich glaube, solche Romane sind mehr für den Hersteller als für das geschilderte Land charakteristisch.

Eine Frau passiert die Straße, mit der ›herrade‹ auf dem Kopf, dem gehenkelten, konisch nach oben sich verjüngenden Wasserkrug. In den französischen Nachbarprovinzen kennt man das nicht: Krüge auf dem Kopf zu tragen, das ist eine baskische Sitte.

Baskische Sitten … Eine ist in ganz Frankreich bekannt; das erste Wort, das einem entgegentönt, wenn man von den Basken spricht, heißt: Schmuggler.

Im Museum zu Bayonne hängt ein entzückender alter Druck: ›Der Pyrenäen-Schmuggler‹. Da läuft er, mit einem Sack auf den Schultern und einer Flinte in der Hand, durchs Gebirge, so ein richtiges Gebirge, wie es auf Drucken zu sehen ist, die in schweizer Hotelzimmern hängen, und im Hintergrund zeigen ihn sich zwei Gendarmen, den gefährlichen Mann. Ach, das ist lange vorbei … Es lohnt heute nicht mehr.

Ich hatte die Absicht, mit einem Gendarmeriekapitän die Zollposten abzugehen – aber als ich sah, wie er sein Auto ankurbelte, um abzufahren, da war es mit meiner Lust vorbei. Schmuggel –? Die Valuta hat ihn zerstört. Die Vorbedingungen waren glänzend. Tabak und Alkohol … In Frankreich und Spanien hatten die Kaufleute das allergrößte Interesse daran, die Preise durch den Zoll hochzuhalten und die natürliche Entwicklung zu hemmen, wie ja überall – und auf beiden Seiten der Grenzen saßen und sitzen Leute, die dieselbe Sprache sprechen, die ihre Zugehörigkeit zu verschiedenen Staaten hauptsächlich empfinden, wenn sie Steuern zahlen und dienen müssen, und die doch zusammengehören. Es wurde unsagbar geschmuggelt. Die Gendarmen wußten das, aber es war ein anständiger Kampf. Auf beiden Seiten wurde damals unter keinen Umständen geschossen: wer erwischt wurde, zahlte oder brummte – aber deshalb keine Feindschaft nicht. Du bist Schmuggler – das ist dein Beruf; und ich bin Gendarm – das ist meiner. Die Mühe war groß und der Verdienst klein. Meist wurden nicht einmal Maultiere benutzt, die ja noch auf den abenteuerlichsten Wegen klettern können, sondern die Schmuggler trugen Sack und Pack auf dem Buckel – und welche Wege! Nachts, im Regen, die steilsten Abhänge hinauf und die bösesten Geröllhalden wieder herunter – und das alles für ein paar Francs! Schmuggeln galt immer als ein durchaus ehrenhafter Beruf, jeder wußte, dass sich der andre damit befaßte, und keiner hätte niemals verraten. Aber heute …

Die französische Inflation ist sehr langsam gekommen, und die Spanier haben Zeit gehabt, zu merken, was ihre Pesetas in Frankreich wert sind. Sie wissen das zum großen Leidwesen der Basken sehr genau, und wenn man die nach ihrem alten Handwerk befragt, so hört man Klagen, gegen die die Stoßseufzer der berliner Pleitevögel eitel Wonnegeschrei sind. »Es ist nichts mehr! Kein Geschäft! Die Spanier bezahlen nichts! Was sollen wir denn noch schmuggeln … !« Es ist herzzerreißend.

Vorbei die Zeiten, wo die Schmiere stehenden Kinder und Frauen beim Nahen des Gendarmen den Schmugglern: »Otsoa! Otsoa! Der Wolf! Der Wolf!« zuriefen; der Wolf ist Vegetarier geworden, weil es keine Schafe mehr gibt. Vorbei Romantik, zerrissenes Abendgewölk, durch das der bleiche Mond die heimlichen Contrebandiers bescheint, Schmugglerliebe und Schmugglertod … vorbei.

Vor allem deshalb, weil ja heute keinem vernünftigen Menschen die Grenze noch eine solche herzklopfenverursachende Ehrfurcht einflößt. Wir wissen doch. Wir wissen doch, wer da für wen wacht. Das Getreide soll nicht daher kommen, wo es billiger ist, die Klaviere nicht daher, wo man besser versteht, sie zu machen – künstlich hochgehalten werden Industrie, Kapital und Erwerbsmöglichkeit. Ein wirtschaftlicher Vorgang. Streicht eure lächerlichen Grenzpfähle doch nicht so feierlich an! Setzt drauf: Müllers Fettvaseline ist die beste! Das käme der Wahrheit schon wesentlich näher.


Und nun muß ich ja wohl abfahren.

Fort von der kleinen Bergstadt im Grünen, hinaus auf die Landstraßen, wo mir die Ochsenkarren begegnen werden, mit den sorgfältig in bunte Leinentücher eingewickelten Tieren, die schweren Köpfe durch ein Netz gegen die Fliegen verhängt. Ich habe nie gesehen, dass sie geschlagen werden. Nur die Esel haben hier viel Leid, Kummer und Stockprügel auszustehen. Die alten Karren knarren in den Radachsen, das quietscht und kreischt – wie ein Baske einmal erklärt hat: »Damit sich die Ochsen unterwegs nicht so langweilen.« Gemüt ist eine schöne Sache. Also fort. Aber wie –?

Die gesamten Pyrenäen werden von einer großen Automobilstraße durchzogen, die das weiter im Norden liegende Eisenbahnnetz aufs glücklichste ergänzt. Denn eine Automobillinie ist biegsamer als die Eisenbahn, kann aussetzen, wenn kein Bedarf vorliegt, ist leichter zu amortisieren … Merkwürdig, wie diese Zeit überall, hier und in Schottland und in der Schweiz, die alte Postkutschentradition wieder aufnimmt. Der Herr Schwager hat aber ölgeschwärzte Finger, sein Posthorn hupt, und auf dem offnen Wagen sitzen die Engländer und, was noch schlimmer ist, ihre Frauen, und lassen an ihren kalten Fischaugen die ihnen zustehenden Pyrenäen vorübergleiten. Es gibt da so eine Art Rundreisebillett, von Bayonne bis Perpignan – zweimal darf man unterbrechen –, sonst aber werden sie mitleidslos durch Busch, Feld, Wald, Klamm und Tal gejagt, an Abgründen vorüber, über Brücken und neben den schäumenden Bächen her, ›gaves‹ genannt, immer weiter, immer weiter – bis alles aussteigen muß. Das ist den Engländern recht. Sie nehmen es auf sich, sie müssen auch das gesehen haben, und wenn die Engländer nun gar Amerikaner sind, dann kennt ihr landschaftlicher Stumpfsinn keine Grenzen, Ich habe neben welchen gesessen, denen hätte man nur den Kopf immerzu auf die Felsplatten schlagen mögen: »Hier! Sieh dir das an, du Trottel! Damit du wenigstens etwas von deinem Geld hast!« Er aber saß da und sah geradeaus, denn er hatte für geradeaus bezahlt. Menschenexport ist selten gut.

Mit so einem Postauto möchte ich wohl fahren. Sie nehmen wenig Gepäck mit, und man muß sich das einrichten, auch sind sie immer besetzt. Aber ›on s'arrange‹. Ich arrangiere mich wirklich und klettre brav und bieder zu den Leuten mit den großen Unterkiefern. Sie sitzen stumm da, sprechen in drei Fahrstunden vier Sätze; sie sind kalt ergriffen von der Landschaft, ich von ihnen – ich sitze vorn beim Chauffeur, das ist mein Lieblingsplatz. Man hat immer warme Füße, es riecht so schön nach Benzin und Natur, der Chauffeur erzählt Schwänke aus seinem Leben, und neben ihm ist ein kleiner Spiegel. In dem sehe ich hinten meine Amerikaner. Beinah vergesse ich die ganzen Pyrenäen – wenns so weitergeht, werde ich einen Führer schreiben: ›Anleitung zur Zucht von gut legenden Amerikanern‹. Ich kann mich gar nicht losreißen – ein grüner Schleier weht im Winde, die ausdruckslosen Fahrstuhlgesichter schwanken ein wenig in den Kurven … herrlich. Wer jetzt nach hinten schießen könnte! Aber es ist Friede, wer wird denn schießen … Und so fahren wir durch das Land der Basken.