Zum Hauptinhalt springen

Pic du Midi

Wenn man von Barèges lange genug auf gewundenen Wegen hinaufgeklettert ist, kommt man an die Hotellerie, die sechshundert Meter unter dem Gipfel liegt – also zweitausendzweihundert. Noch sechshundert Meter …

Der Gipfel steht vor mir – hoch oben blinkt ein Märchenschloß mit der weißen Kuppel einer Moschee. Das ist das Observatorium. Das kleine Zauberhaus grüßt herunter – es ist auf einmal noch so weit bis dahin …

Unterhalb der großen Hütte liegt ein See, und noch einer. ›Gebirgsseen, das Auge Gottes‹. Diese da strahlen dunkelgrün zwischen den Steinen. Es ist kalt.

Wird die Aussicht oben gut sein –? Taine hatte es seinerzeit nicht gut getroffen, und er legt einem fingierten Reisekameraden folgende Notiz ins Tagebuch:

»Abmarsch vier Uhr morgens im dichten Nebel. Beginn der steilen Böschung; langsamer Aufstieg im Gänsemarsch. Erste Stunde: Rückenansicht meines Führers sowie eines Pferdehinterteils. Der Führer hat eine Jacke aus flaschengrünem Samt, rechts und links ist der Stoff etwas ausgebessert, das Pferd ist schmutzigbraun und hat Striemen. Große Steine auf dem Weg, ich muß an die deutsche Philosophie denken. Zweite Stunde: Es klärt sich auf, jetzt kann ich das linke Auge des Führerpferdes sehn. Das Tier ist auf diesem Auge blind – es verliert aber nichts. Dritte Stunde: Die Aussicht wird immer weiter. Ich sehe jetzt zwei Pferderücken und zwei Jacken von Touristen, die fünfzehn Schritt unter uns sind. Graue Jacken, rote Gürtel, Mützen. Sie fluchen. Ich fluche auch, das tröstet etwas. Vierte Stunde: Große Begeisterung. Der Führer verspricht uns, wenn wir oben angekommen sind, ein Wolkenmeer. Wir sind oben, wir sehen das Wolkenmeer. Leider sind wir grade mittendrin. Die Sache sieht aus wie ein Dampfbad – vom Dampfbad aus gesehn. Bilanz: Schnupfen, Reißen in den Füßen, Hexenschuß, Frost, wie wenn man acht Stunden in einem ungeheizten Wartezimmer gesessen hätte.« – »Kommt das oft vor?« fragt Taine seine Figur. »Von drei Malen zwei«, sagt die. »Die Führer geben das große Ehrenwort: es kommt überhaupt nicht vor.«

Und während ich noch in der Hotellerie frühstücke, die sauber ist und schön kalt, bezieht sich der Gipfel mit weißen Wolken, die vom Tal aus hinauffegen, ganz gewiß, jetzt wird er eine Mütze bekommen – und ich bin … »Je suis chocolat« sagen die in Paris. Mit einem halben gebratenen Fisch und etwas Heu im Hals reiten wir nach oben: der Esel und ich. Nach einem kleinen Stündlein sind wir oben.

Sie haben neun Jahre daran gebaut, und im Jahre 1882 war es fertig. Nun ist ein Observatorium da, mit einer Kuppel und einem großen Fernrohr, und ich lege zur größten Heiterkeit des Astronomen einen schönen Kindermund hin, als ich frage, ob hier geheizt ist. Ich weiß nicht einmal, dass die Luke, durch die das Fernrohr in den Himmel schießt, immer offen sein muß! Siehst du. Sie haben für den Wetterdienst viele gebildete Apparate, und ein Wohnhaus und Zimmer und Küchen, und alles ist durch einen gedeckten Gang verbunden, so dass sie im Winter nicht hinauszugehen brauchen. Meist können sie das auch gar nicht, das Haus schneit ein. Sie sind vier im Winter, die oben bleiben, oft für Wochen unerreichbar, und Lebensmittel haben sie immer für ein halbes Jahr voraus. Herr Daupère macht schon fünfunddreißig Jahre Dienst; im Tal, auf Urlaub, fehlt ihm etwas, und er langweilt sich. Der jetzige Direktor heißt Herr Latreille; und eine Hilfe haben sie auch, einen kräftigen, hübschen jungen Menschen. Von hier kann man nach Bagnères telefonieren und telegrafieren, und sie sind grade dabei, eine Funkstation aufzumontieren. Der grau lackierte große Apparat steht schon da. Wie mag man das alles nach oben geschafft haben? Mein Führer erzählt, er habe als junger Mensch beim Bau geholfen, es sei eine bittere Sache gewesen.

Und nun sehe ich mich um.

Man sieht; in der Ebene, nach Toulouse hin, ein Wattemeer von Wolken – unten ist also jetzt schlechtes Wetter, und die Leute sagen: »Wenn doch nur die Sonne einmal scheinen wollte!« Hier scheint sie. Ab und zu ziehen graue Schwaden über die Kuppe, dann steht man im Nebel. Die Pyrenäen sind wie mit einem Messer in den blauen Himmel geschnitten, so klar stehen sie da. Ich grüße alte Bekannte: Gavarnie und die Rolandbresche und viele andre. Manche tun furchtbar fein und erkennen mich nicht wieder.

Arbeiter graben auf der Plattform, legen Leitungen und haben alles voller Planken und Erdhaufen vollgepackt, man glaubt, in einer Großstadtstraße zu sein. Ein Hühnervolk scharrt und kakelt: einmal stehen sie alle, von der Sonne beschienen, grade am Abhang vor einer blitzenden Wolkenlandschaft, die einen schönen Hintergrund für ihre Leiber abgibt. Der Hahn weiß, dass ihm Wolke gut steht, und benimmt sich entsprechend.

Sie sollen bald eine Zahnradbahn bekommen, hier oben – der Ingenieur ist mit mir zusammen hinaufgeritten und mißt die Felsen ab. Und weil man oben nicht übernachten kann, steige ich wieder zur Hotellerie hinunter, den morgigen Sonnenaufgang abzuwarten.

Es wird kalt und kälter, das große Feuer in der Küche, in der alle zusammensitzen und viel essen, wärmt und leuchtet dunkelrot. In der Stube, wo ich unter zahllosen Decken eingepackt liege, ist es bitterkalt. Fast die ganze Nacht hindurch machen die Führer und die Leute, die mit Pferden und Traglasten heraufgekommen sind, musikalischen Lärm, unter gütiger Mitwirkung einer Ziehharmonika. Sie singen gewiß alte baskische Lieder, die im Herzen des Volkes … Gute Nacht! Sie singen alle, immer, in den kleinsten Löchern der Pyrenäen, ohne Ausnahme, auf allen Bahnhöfen, auf den unglaublichsten Örtern, vom Atlantischen Ozean bis zum Mittelländischen Meer, das ›Valencia‹ von gestern: den Java der Mistinguett.

On fait un' petit' belote
Et puis ça va –
On belote, on rebelote
À tour de bras –

Es ist die Pest. Sie pfeifen, summen, trommeln es … überall. Aus dem Java ist einfach ein Ländler geworden, ein gemütlicher alter Walzer, das erklärt wohl seine Popularität. Alte Baskenlieder? Weniger.

Ich stehe dreimal auf: um halb vier, um vier und um halb fünf. Die Sonne wird Verspätung haben. Kein Wunder – hier müßte mal Ordnung in die Bude jebracht werden! Aber dann scheint es doch etwas zu werden mit der Sonne.

Noch haben die Felsen keine Farbe – der Gipfel ist verhüllt, ich brauche also nicht in die Wolken zu steigen, da wäre gar nichts. Hier unten sehe ich den kaltdunkeln Horizont, und dann seine Kolorierung, und dann färbt sich der See und ein Stück grasbewachsener Felsen, nun schwimmt da hinten die Luft in rosigem Grau …

Und alles wartet
wie mit niedergeschlagenen Augen
auf den Tag.

Die schönen Zeilen Werfels durchfliegen mich … Nicht wahr, das dürfen sie doch, von Werfel; wie? Schade, dass sie gar nicht von ihm sind. Ihr Verfasser war ein kleiner, dicker, ehemaliger Offizier, ich darf den Namen gar nicht sagen – dann ist es mit meiner literarischen Reputation vorbei. Es wird heller … Gold blitzt auf. Nun kommt der Wirt des Hauses und teilt mir mit, dass es heute kalt sei, dass die Sonne gleich aufgehen werde, dass man sie schon sehen könne und dass wir einen schönen Tag bekommen würden, freilich mit etwas Regen und Windstößen … Ich beneide die Esel, die sich im Geröll Gras suchen, und die man kauen hört.

Jetzt ist die Sonne da. Es ist eine ganz gewöhnliche Sonne, wie alle Tage, niemand kann einsehen, warum man solange auf sie gewartet hat. Sie scheint ihrs, wärmt nicht … Der Wirt schlägt mir die letzten Goldplomben heraus, nimmt mir die Uhr fort und entläßt mich mit einem fröhlichen: Glück auf!

Hinter der untersten Wegbiegung verschwindet oben das Zauberhaus mit der weißen Kuppel einer Moschee.