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Laster und Liebe

Als neulich die Duncan wieder einmal irgendwo auftreten wollte, machten sie ihr Schwierigkeiten. Sie: die verbündeten Männervereine zur Bekämpfung der öffentlichen Unsittlichkeit. Der Zusammenstoß ist nicht neu; seit Jahrzehnten toben (von uns betrachtet) auf der andern Seite Gymnasialdirektoren, Regierungsräte a. D., allerhand Menschen herum und schnüffeln. Was geht hier vor?

Wir sind in Norddeutschland toleranter geworden. Keine Vendetta bedroht den Verführer eines Bürgermädchens, höchstens der § 1300 des Bürgerlichen Gesetzbuches, und auch der selten genug. Bei den großen Sensationsprozessen schüttelt man in konservativen Parteiblättern bewegt die Häupter: das ›Verhältnis‹ wird dort mit biblischen Schimpfnamen belegt und gilt als etwas Außergewöhnliches, als eine Sumpfblume, die dem Pfuhl der Großstadt entsprossen. Lacht nicht! Hierin ist der Großstädter wie der Provinzler: er kann sich kaum noch denken, dass es andre Ansichten gibt als seine, und hat es bitter nötig, über die Anschauungen der Mehrzahl seiner Volksgenossen belehrt zu werden.

Denn die Unterschiede sind fundamental. In Berlin eine leicht schmunzelnde Duldsamkeit in sexuellen Dingen, wie sie Angebot, Nachfrage, wirtschaftliche Notwendigkeit und ein für diese Dinge empfänglicheres Judentum hervorgerufen haben. (Das ist beileibe kein Vorwurf; wir wollen weder drüben noch hüben stehen, sondern uns die Sache einmal aus der ersten Etage besehen.) Draußen, auf dem Land, und in den kleinen, größern und großen Provinzstädten, ist der Bürger von einer verblüffenden Intoleranz. Er ist durchaus nicht sittlich: Kenner versichern, dass man sich noch heute sein Klein-Paris loben könne und andre Provinzstädte nicht nachstünden. Mag sein: die Gegensätze prallen dort schärfer aufeinander, man gibt mehr auf einander acht, man boykottiert, man verweist den nötigen Auspuff der Leidenschaften in schlecht möblierte Zimmer, die Angst vor dem Skandal ist prophylaktisch tätig. Was das Milieu angeht, so lese man Grete Beier: nicht der Mord am Schluß hat diese Atmosphäre von Dumpfheit, schlechter Luft und schmierigem Eßgeschirr geschaffen. »Während des Kaffeetrinkens fing er davon an, wie schade es sei, dass die Hochzeit noch immer nicht stattfinden könne. Er könne nicht ewig mit der Hochzeit warten. Nun begann er, zärtlich zu werden. Er bot ihr Eierkognak an, sie danke, sie trinke keinen. So solle sie ihm wenigstens ein Gläschen einschenken. Damit ging er hinaus, um das Klosett aufzusuchen.« Liebst sie, liebst sie! So wirds gemacht, und wenn nicht grade eine Gerichtsverhandlung oder ein falsch adressierter Brief ein Zipfelchen vom Vorhang hochhebt – wir wüßtens nicht. Aber die andern Wissens, die andern, die der Widerpart sind. Sie nennen sich, zum Beispiel: Verband der Männervereine zur Bekämpfung der öffentlichen Unsittlichkeit, haben auch ein Blättchen ›Volkswart‹, und wenn man das liest, möchte man glauben, die Liebe sei zum Teufel gegangen und nur noch der außereheliche Beischlaf übrig geblieben. Die ›Ausübung desselben‹ soll unterdrückt werden, jeder Tischler, der Betten verkauft, soll unter den Kuppeleiparagraphen fallen, Nackttänzerinnen werden beschrien, sittenreine Opern gesucht, in jedem Schundplakat, in jeder Animierkneipe, in jedem scherzhaften Aschbecher für Tuchwaren-Reisende wird die Hölle gesehen, Masseusen, weibliche Homosexuelle, Unzüchtigkeit, Unzucht, unzüchtige, unsittliche Akte – der Mensch hats schwer! Von der düsseldorfer Kunstausstellung wird eine Liste der verfeinten Bilder hergestellt, die Integrität der Studentenbude ist zum Dogma geworden, und nun gehts los: auf der einen Seite Keuschheit, dann Prüderie, dann Fanatismus, auf der andern Spott, Hohn, Satire – und beide Male übertrieben.

Ich glaube, sie können nicht zueinander kommen, obgleich in den Kerntruppen beider Lager nicht solche Kerle zu sitzen brauchen, wie sie die andern sehen. Drüben sinds beispielsweise Sanitätsräte, Lehrer, Gutsbesitzer (»ein für die Ehre und das Wohl des deutschen Volkes glühender Gymnasiallehrer«); hüben mags im allgemeinen besser sein – im allgemeinen! denn die natürliche Freude am Akt und die andre an den Strumpfbändern sollten nur hingehen, wenn sie offen zugestanden werden. Sie werden das nicht immer, und ein Kampf um die Freiheit der Kunst wird hier oft mit Geschäftsinteressen geschickter Verleger vermischt. Das Geschrei steigt zum Himmel. Drüben wird der Sexualakt zum Delikt, der Frau-enleib ist der Anstiftung dringend verdächtig, und Polizei, Obrigkeit und Behörde werden in Bewegung gesetzt gegen Schiebetänze, gegen Wohnungsvermieterinnen, gegen Postkarten, gegen Turnkostüme. Hüben ist die Sexualität ein bißchen zu sehr Religion geworden: Frauen mit einer Reformseele sind für obligatorischen Gottesdienst, und Philosophie, Literatur und Kunst werden bemüht, das ihrige zu tun. Hüben und drüben – sie können zusammen nicht kommen. Ganz ausgeschöpft hat die Sachlage wohl Walther Rathenau in einer kleinen Glosse: ›Das Mißverständnis der Prüderie‹. Er sagt: »Zwei Gruppen ehrlicher Menschen stehen sich gegenüber und halten einander wechselseitig für Heuchler oder Wüstlinge. Man muß wissen, dass eine große Gattung Menschen von starker und zurückgedrängter Sexualität vor jeder Nacktheit oder Laszivität heimgesucht werden von Reizen und Erregungen, die sie nicht zu bändigen wissen. Sie können nicht anders denken, als dass alle übrigen ihnen gleichgeartet sind. Allein die andre Gruppe, mehr ästhetisch-sinnlich als sexual veranlagt, weiß von diesen Vorgängen nichts und kann sie nicht erraten. Sie hält den Unmut ihrer Brüder für Heuchelei und Lüge.« So ists. Man lese einmal nach, wie vernünftig der alte Hufeland über diese Dinge geschrieben hat, und unter welchen Tobsuchtsanfällen heute eine Diskussion geführt wird, deren Thema seiner ganzen Natur nach überhaupt nicht diskutiert werden kann. Ich habe blonde Haare, du schwarze – soll jeder von uns einen Verein gründen? Hier hat nur die Ökonomie und die Medizin ein Wort zu reden, nur diese. Drüben bei den Männerbünden werden sie oft übersehen: man sollte da ein wenig mehr Physiologie und Soziologie betreiben. Hüben bei den freien Kunstmenschen ist man nicht so nackt wie die perhorreszierten Akte, Man ist feierlich aufgeregt und niemals so gleichmütig wie jener Polizeimann, der mir einst sagte: »Sehen Sie, eine Zentralstelle gegen den Schmutz in Wort und Bild – Gott, das müssen wir schon haben, damit das Zeug nicht überhand nimmt!«

Wir leiden an einer Überschätzung der Sexualität. Wir verwechseln immer noch Analyse mit Darstellung und objektive Begründungen mit Plädoyers. Vor allem: mulier taceat in ecclesia! (Wir lassen ja auch den Angeklagten nicht schwören.) Der Schauplatz sei nicht eine grande opéra der Öffentlichkeit, wo man sich mit schwer unterdrücktem stofflichem Interesse an Arien über Abtreibung, Homosexualität und frigiden Flauen entzückt, sondern das Schlafzimmer. Aber auch hier empfiehlt es sich, ohne Textbuch zu agieren. Über den Bodensee der Sexualität kommt man nur, wenn er zugefroren ist und der Reiter nicht weiß, daß das Feld eigentlich eine Eisdecke ist. Wer sich zuviel auf sich selbst besinnt, ist schwach. Und ich glaube, dieses ganze Geschrei über Sexualität, Erotik, Unsittlichkeit entspringt einem einzigen: dem Mangel an Kraft.

Ignaz Wrobel
Die Schaubühne, 25.12.1913, Nr. 52, S. 1286.