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Auf dem Nachttisch

›Pröhn‹ ist ein schönes Wort – ich glaube: es stammt aus dem Plattdeutschen, aus Pommern oder aus Mecklenburg. Es bedeutet Kram, Krimskrams, alter Plunder. In Nachttischschubladen liegt immer Pröhn. Was liegt bei Ihnen? Ich habe gestern Ordnung gemacht: ein Handschuhdaumen lag da, ein Nagel, zwei Büroklammern, ein altes braunes Taschentuch, noch ein Nagel, ein abgekauter Bleistift … pfui. Man wirft viel zu wenig fort, viel zu wenig – gut acht Zehntel aller Bücher zum Beispiel kann man getrost vor der Lektüre fortwerfen, ein Zehntel nach der Lektüre. Lasset uns das letzte Zehntel betrachten.


›Sozialismus aus dem Glauben‹

»Es rieselt im Gemäuer der Entente«, schrieb der unsägliche Benedikt in seiner ›Neuen Freien Presse‹ während des Krieges, so lange, bis Österreich selbst davonrieselte. Kraus hat das Wort berühmt gemacht.

Im Gemäuer des Sozialismus rieselt es aber wirklich; hier stimmt etwas nicht. Das mochten die Einberufer der ›Sozialistischen Tagung in Heppenheim‹ gefühlt haben, die da in der Pfingstwoche 1928 getagt haben. Die Protokolle dieser Tagung liegen vor: ›Sozialismus aus dem Glauben‹ (erschienen im Rotapfel-Verlag zu Zürich und Leipzig).

Obenan: Hendrik de Man und Henriette Roland-Holst, bei weitem die logisch besten Referate. Beide fühlen richtig: so geht das nicht weiter. Karl Marx hat den in ihm wohnenden Heroismus heroisch unterdrückt, und seine Nachtreter haben aus einer Lehre, die zutiefst aus dem Herzen des Lehrers gekommen ist und dann erst den Verstand passiert hat, eine mechanische Ablauflehre gemacht: Organisiert euch, schwenkt in die Reihen, erkennt unsre Thesen an, streikt – und der Rest kommt ganz von alleine. Nun, er ist nicht von allein gekommen – und das jämmerliche Versagen der in die Regierung getretenen deutschen Sozialisten hat uns gezeigt, dass im Organismus dieser Partei ein schwerer Fehler vorhanden sein muß. Er ist auch vorhanden. Frau Roland-Holst hat das in ihren Thesen (auf Seite 177) recht gut formuliert:

»Die Lebensgestaltung unterworfener Klassen (Völker, Rassen) ist in hohem Maße abhängig von den Lebensbedingungen, die ihnen von den herrschenden Klassen (Völkern, Rassen) aufgedrungen werden. Jedoch ist diese Abhängigkeit nie absolut.

Der Marxismus betrachtete, trotz seiner dialektischen Denkweise, die ökonomische Entwicklung vorwiegend als Ursache und die Lebensgestaltung als ihre Folge. Es ist jetzt an der Zeit, das Versäumte nachzuholen und den Hauptnachdruck auf die Umgestaltung der Gefühle, der Motive der Lebensformen jeder Art im sozialistischen Sinn zu legen.

Der Marxismus hat das Rationelle übermäßig stark betont.«

Damit läßt sich schon viel anfangen.

Das Niveau dieser Unterhaltungen auf der Heppenheimer Tagung liegt hoch: die Leute haben wenig aneinander vorbeigesprochen, und bei allen hat man den Eindruck: hier wird mit ehrlichen Mitteln gesucht. Daß diese Mittel nicht ausreichen, ist eine andere Sache; es macht sich auch hier wieder die traurige Beschränktheit eines ›Lagers‹ bemerkbar: für manchen großen Psychoanalytiker existiert der Sozialismus gar nicht oder kaum – diese hier sprechen wieder von Freud nicht. Die Gefahr dieser Diskussionen liegt in ihrer Entartung zum intellektuellen Gesellschaftsspiel; der Proletarier fragt mit Recht: was soll ich damit anfangen? Und so wirken denn die paar Worte, die Reinhold Sputh in Heppenheim gesprochen hat, wie eine Erlösung. Zur Erkenntnis trägt er wenig bei – aber man spürt unter den ruhigen Worten den Schrei seiner Klasse.

Bei den andern spürt man ihn kaum. Mit dem Hut in der Hand sei angemerkt: selbst die Worte, die Buber dort gesprochen hat, wirken wie blasse Schemen, wie scholastische Kommentare, obgleich sie es nicht sind. Dergleichen bringt nicht weiter. Leicht verläuft sich das in die Gefilde jener Pseudo-Soziologie, die sich an ihrer eigenen Methodik berauscht; jener Pseudo-Philosophie, deren Jargon heute schon alle gebildeten Mädchen sprechen und alle Schmöcke schreiben und mit der nichts, nichts bewirkt wird. Die Praxis heißt dann Radbruch: der hat alles gelesen, weiß vieles, und tut, wenn es zum Klappen kommt, herzlich wenig. Und nur darauf kommt es an.

Der Umschlag gegen die mechanistische Weltauffassung der Generation von 1870 steht vor der Tür – er ist eminent gefährlich. Magie ist eine große und gute Sache; wird sie vulgarisiert, heißt sie entweder Vulgär-Katholizismus, wohl eine der schauerlichsten Sachen, die der Teufel erfunden hat und Gott zuläßt – oder es ergibt sich jenes verblasene theosophisch-psychoanalytische Puzzle, bei dem die Wichtigmacher herumlaufen und viel, viel weniger von Herrn Weißenberg entfernt sind, als sie selber glauben. Und zum Schluß wird sich dann wohl die politische Reaktion dieser Strömungen bemächtigen, und daher ist – neben demütigem Streben nach jener Wahrheit, die nicht auf die Gassen gehört – schärfstes Mißtrauen am Platze. Dieser ›Sozialismus aus dem Glauben‹ verdient aufmerksame Lektüre, obgleich er einer Konkurseröffnung gleicht. Zu welchem Prozentsatz die Gläubiger akkordieren werden, steht noch dahin.


Plättner, ›Eros im Zuchthaus‹

Die Wirklichkeit ist vorläufig noch grausig genug. Sprach ich schon von Plättners Zuchthausbuch? Man kann gar nicht oft genug davon sprechen. Es heißt ›Eros im Zuchthaus‹ und ist im Mopr-Verlag, Berlin NW 7, erschienen. Das ist eine wichtige Publikation.

Formal halte ich das Buch für mißglückt. Der Verfasser hat zu viel Magnus Hirschfeld gefrühstückt, und nun ist aus einer schon bei jenem nicht immer schönen Terminologie ein höchst schauerlicher Mischmasch von Fremdwörtern, Fachvokabularium und Halbbildung entstanden, der mitunter bis zur Lächerlichkeit geht. Es ist ungemein bezeichnend, dass Plättner ein ›Fremdwörterverzeichnis‹ anhängt – als ob man einen großen Teil dieser Dinge nicht auch auf deutsch sagen könnte! Die lateinischen Wörter müssen ihm ungeheuer imponiert haben. Aber das ist nur ein kleiner Schönheitsfleck des Buches – viel, viel wichtiger als die ungenügende und mitunter wander-vogel-lyrische Darstellung ist das Material. Das ist ersten Ranges. Denn es ist erlitten.

Eine einzige Qual geht durch dieses Buch.

Wir können uns alle kaum vorstellen, was das heißt: die Sexualfunktionen unterdrücken. Es ist ja immerhin schon so weit, dass nicht mehr gegrinst wird, wenn einer von diesen Dingen spricht; aber es gibt genug Ärzte, und natürlich sind unter ihnen die beamteten Gefängnisärzte; die erklären diese Tortur, die in einer erzwungenen geschlechtlichen Abstinenz liegt, einfach für nicht vorhanden. Was wissen diese studierten Wachtmeister vom Menschen!

Ich halte alles, ohne Ausnahme alles, was Plättner uns erzählt, für möglich, für wahrscheinlich und das meiste für wahr. Jede Exemplifizierung an uns selber wird zuschanden. Jeder von uns lebt sicherlich manchmal monatelang im Jahr ohne sexuelle Betätigung – wenn er das will. Und dann geht es sehr gut. Ich kenne nur wenig Männer, die so abhängig von dieser Funktion sind, dass sie wie die verhungerten Faune umherlaufen, quaerentes quam devorant. In dem Augenblick aber, wo jemandem verboten wird, den Geschlechtspartner zu suchen, wird die Sache schlimm. Dann frißt die Qual, dann quält die Zwangsvorstellung, dann tauchen die übelsten und infantilsten Gedankengänge wieder auf … Davon erzählt Plättner.

Was so unbeschreiblich aufreizend an diesem Buch ist, das ist die rohe Trägheit der beamteten Stellen. Soweit hier nicht versteckter Sadismus im Spiel ist, ein Sadismus, der doppelt feige ist, weil er sich hinter angebliche Gruppennützlichkeit verkriecht, sind es archaische Ideen, die den Fortschritt hindern: dergleichen kleidet sich in Soutanen, in Richterroben, in Uniformen – man reiße diese Kostüme herunter, man kratze den Beamten, und man findet, was Jung so schön den »Schatten« nennt. Es ist ein Elend.

Und es müßte gar kein Elend sein – denn die Beurlaubung verheirateter Gefangener, die Ermöglichung des Geschlechtsverkehrs in den Strafanstalten ist gar nicht so schwer, wenn man nur wollte. Man will aber nicht. Weil doch das ›Volksempfinden‹, auf das die Herren sonst pfeifen, eine ›Strafe‹ verlangt – auf einmal also kümmert sich der Strafvollzug um das Volk, und dann aber auch um seine niedersten, um seine verächtlichsten Ressentiments. Man kann dem Buch nur viele gute und einflußreiche Leser wünschen.


Istvan Hóllós, ›Hinter der gelben Mauer‹

Deshalb, weil ja nichts schwerer ist, als in den starren Mechanismus einmal vorhandener Gefüge einzugreifen. Ihr wißt, wie schwer das bei den Fürsorgeanstalten ist; man bilde sich ja nicht ein, dass bejubelte Theateraufführungen eine Sadistin in Klein-Klotzow ändern werden, solange das System nicht geändert ist. Und es ist nicht nur mit den Fürsorgeanstalten so. Ein ungarischer Psychiater, Istvan Hóllós, zeigt uns, dass es in geistiger Beziehung in den Irrenanstalten nicht viel besser zugeht. Sein Buch heißt ›Hinter der gelben Mauer‹ und ist in dem höchst verdienstlichen Hippokrates-Verlag zu Stuttgart erschienen; ein Verlag, der sich mit der Herausgabe von ärztlichen Volksbüchern sehr nützlich macht.

Dieses etwas pathetisch geschriebene Buch, in dem es mitunter kraus zugeht, vertritt eine gute These: jede mechanistische Anstaltsbehandlung ist eine Sünde am Menschen. Herr Hóllós ist ein bürgerlicher Individualist; was echte Kollektivität ist, ahnt er nicht – dennoch ist viel Gutes und Rechtes in seinem Buch. Er zeigt die schmale Grenze zwischen den geistig Gesunden und den geistig Kranken auf (eine der schönsten Geschichten Roda Rodas faßt das in dem unsterblichen Satz zusammen: »Wir Psychiater unterscheiden uns von den Verrückten nur durch die Vorbildung«); und Hóllós bringt viel interessantes Material herbei. Vom geheilten Kranken: »Der geheilte Kranke muß viel gesünder sein als jeder andre Sterbliche.« Hier liegt ähnliches vor wie bei den armen Rechtsbrechern, die den Unabsetzbaren in die Hände fallen: der Richter darf anormal sein, der Verbrecher darf es nicht. »Ich will aus der Anstalt erst wieder nach Hause gehen«, sagt bei Hóllós ein Geheilter, »wenn ich tun und lassen kann, was mir gefällt; nervös, launenhaft, erzürnt sein, wann es mir beliebt, wie jeder andre Mensch – ohne dass sie denken, ich sei wieder verrückt geworden … «

Hóllós zeigt auch die schematischen Wahnvorstellungen auf, die sich die Gesunden von den Verrückten machen; die können ihnen gar nicht verdreht genug sein, die Haare müssen sich einem sträuben … dann erst fühlen sich jene gesund. Diese Angst vor dem Irren hat sehr tiefe Ursachen.

Die Anstaltsbehandlung, die den Kranken durch die Nummernmühle dreht, ist famos wiedergegeben. Einer sagt von der Untersuchung: »Dann war nicht einmal von mir die Rede. Man sprach von jemand anderm: von einem Kranken, der unter den vielen andern eben jetzt an die Reihe gekommen war.« Nämlich von ihm. Aber eben nicht von ihm. Das Ich geht verloren auf diesem fürchterlichen Wege. Was Hóllós will, ist, dass man die Irren nicht nur, wie das heute geschieht, interniert, weil dabei jeder Mensch zerbrechen muß; er will, dass man sie wohnen läßt wie andere Menschen auch; mit einem Gitter, das sie möglichst wenig spüren. Eine vernünftige Forderung. Und doppelt beachtenswert, weil sie von einem Irrenarzt ausgesprochen wird, der auch seine Kollegen gegen törichte Vorwürfe in Schutz nimmt. Ein gutes Buch.


C. J. H. Hayes, ›Nationalismus‹

Der Nachttisch wird viel zu klein für die vielen, vielen Bücher … ich werde mir einen neuen kaufen müssen (ohne Schublade).

Da hätten wir: ›Nationalismus‹ von C. J. H. Hayes (erschienen im Verlag Der Neue Geist zu Leipzig). Hayes ist Professor an der Columbia-Universität in Amerika, und das merkt man. Das Buch hat eine bewundernswert gute These als Fundament, aber was auf dieser These aufgebaut ist, ist weniger schön. Und sehr gut untermauert ist der Laden auch nicht … Hayes unterscheidet trefflich das legitime Heimatsgefühl von der Massenepidemie des Nationalismus; er erkennt auch dessen Rolle als Religionsersatz des zwanzigsten Jahrhunderts richtig; er sieht, wie die »Massen unter dem Zauber des Nationalismus ihre Führer weniger kritisieren und eher geneigt sind, in wirtschaftlichen Dingen den status quo anzunehmen. Auf die Menge wirkte der Nationalismus unter Umständen wie eine Art Lachgas. Wenn man einen Arbeiter dazu bringen konnte, es recht tief einzuatmen, so fühlte er sich dadurch erheitert und vergaß jedenfalls eine Zeitlang, dass er in der Fabrik … für viel Arbeit schlecht bezahlt wurde … Im Traum nationaler Größe übersah er, wie schmutzig in Wirklichkeit seine eigene Wohnung aussah.« Bravo!

Aber es ist ein mit glatter Goldfeder geschriebenes Buch; die Amerikaner, so intolerant und reaktionär sie sonst sind: diesem Professor werden sie nichts tun. Denn es ist ein ungefährliches Buch, also ein zweitrangiges Buch. Folgerungen werden nur zaghaft gezogen; der tut keinem etwas. Der Verfasser – steht in der Einleitung – »hat den Krieg als Hauptmann beim amerikanischen Generalstab mitgemacht«. Na, dann ist ja alles in schönster Ordnung.


Arthur Garfield Hays, ›Laßt Freiheitsglocken läuten!‹

Da ist ein Landsmann von ihm, der so ähnlich heißt, schon ein andrer Kerl. Das ist Arthur Garfield Hays. ›Laßt Freiheitsglocken läuten!‹ (erschienen bei Grethlein & Co., Leipzig). »Zeitbilder aus dem heutigen Amerika« nennt er das Buch.

Walther von Hollander hat hier neulich rechtens auf den sonderbaren Zwiespalt hingewiesen, der im Amerikaner steckt: einerseits unbeschwerter Mut in der Aufzeigung von Mißständen – andrerseits eine Reaktion, die in ihrer Unbekümmertheit und ihrer Ungeistigkeit an alles heranreicht, was wir auf diesem Gebiet in Jurop produzieren. Der Rechtsanwalt Hays illustriert: Freiheit des Unterrichts – Freiheit der Rede und der Versammlung – Freiheit der Presse – Freiheit des Wohnsitzes (die Neger!) – Freiheit der Bühne – Freiheit der Meinung – und man darf sagen: alle diese Freiheiten gibt es, wenn es darauf ankommt, drüben auch nicht. Eine derart brutale Unterdrückung von allem, was aus der Norm fällt, eine widerliche Mischung von arrogantestem Preußentum und wildestem Wildwest-Geknalle, und das noch verbrämt mit der milchigen Tugendhaftigkeit jener Karikaturen von Pastoren, wie sie sie drüben ziehn: es ist bitter. Hays schreibt an einer Stelle: »Die Polizei ging mit größter Brutalität vor. Tränengas, Feuerspritzen, Flinten und Knüttel wurden angewendet, um eine Art Ordnung aufrechtzuerhalten.« Diese ›Art Ordnung‹ beherrscht alle Gemüter – natürlich auch die deutschen, die nichts so außer Fassung bringt, wie wenn diese ›Ordnung‹ auch nur äußerlich gestört wird. Schande auf Schande: wie Amerika politische Flüchtlinge nur wegen ihrer Gesinnung ausliefert: zum Beispiel Italiener an die Faschisten; wie gemein sich die Regierung gegen die Protestler im Fall Sacco-Vanzetti benommen hat, und es sind nicht einmal sehr viel gewesen … Das Ganze ist höchst bunt und mit grimmigem Humor erzählt. Zu Ende formuliert ist so eine Schilderung der Geschworenen im Justizmord Sacco und Vanzetti: »Man stelle sich eine gelangweilte Jury aus Geschäftsleuten des Mittelstandes vor, die einer langen Reihe von farblosen und unsichern Zeugen zugehört hat und nun plötzlich durch den schmetternden Ton des Patriotismus unliebsam zur Aufmerksamkeit gerufen wird.« Das geht auf den Ankläger, Herrn Katzmann, der weniger die Schuldfrage als den Patriotismus der beiden Italiener prüfte. Sie fielen durch; er hat Karriere gemacht. Bei dieser Gelegenheit: das kleine Kapitel, das Hays hier über Sacco und Vanzetti schreibt, scheint mir wirksamer zu sein als der dicke Roman Upton Sinclairs, dessen Reinheit der Gesinnung leider in keinem rechten Verhältnis zu seinem künstlerischen Können steht. Da hat er nun das ganze Material über den Prozeß höchst fleißig durchstudiert – wie kann sich der Dichter so einen Zug entgehen lassen: »Um elf Uhr vierundzwanzig nachts, nachdem sogar schon die Hosen der Verurteilten zur Durchführung der Elektroden aufgeschlitzt worden waren, kam ein Aufschub bis zum 22. August.«

Das Werk von Hays ist ein lehrreiches Buch.

Amerika ist bei uns viel zu hoch im Kurs notiert; warum kriechen wir eigentlich vor diesen Brüdern? Kennt ihr den unverschämten Fragebogen, den die amerikanischen Konsulate den Auswanderern und Reisenden vorlegen? Laßt euch so einen geben – ihr werdet eure Freude haben.


Franz Hessel, ›Nachfeier‹

Zurück zum alten Kontinent. Und gleich dahin, wo es am europäischsten zugeht – so deutsch! Aber nett. ›Nachfeier‹ von Franz Hessel (erschienen bei Ernst Rowohlt zu Berlin). Dieser Hessel ist kein ganz einfacher Fall.

Zunächst einmal: er ist ein Dichter. So etwas ist eben graden Wegs im Azur gepflückt: » … deutlich die Erinnerung an ein langvergangenes Jugendabenteuer mit den beiden, der Spannsehnigen und der Fruchtfleischigen, die neben und über mir auf Kissen lagen wie die Göttinnen auf Wolken eines gemalten Plafonds und über mich weg ihre Affären besprachen, als wär ich gar nicht da, um sich dann wieder mit verschlafenen Händen meiner zu erinnern.« Dieser letzte Infinitiv klingt nach wie ein leises Violinenthema … Im übrigen steht Hessel – ja, da steht er: »Da ist dieser Sonntagvormittag auf der Potsdamer Brücke, wohl gemerkt auf der kleinen, dem stilleren der beiden Brückenbögen, über den nicht die Bahn, nur Wagen gehn.« Da ist er ganz. Nein, noch nicht ganz. Es ist eine Art Mannesschwäche in diesem Mann, etwas fast Weibliches (nicht: Weibisches) – schon in dem reizenden Bändchen ›Teigwaren leicht gefärbt‹ sind Stellen, die fast von einer Frau geschrieben sein könnten – es ist etwas Lebensuntüchtiges, oh, wie soll ich dies Wort hinmalen, damit es nicht nach Bart und Hornbrille schmeckt? Und das weiß Hessel. Und weil er klug ist, macht er aus der Not eine Tugend und spielt, ein wenig kokett, den Lebensuntüchtigen: Ich bin nämlich ein stiller, bescheidener Dichter … Das ist nicht unangenehm, nur ein wenig monoton – trotz des großen Könnens, des wundervoll sauberen Stils, der bezaubernden eingestreuten Geschichten und Geschichtchen. So das Wort einer Französin: »Une femme, ça pleure comme ça pisse«. Oder das von dem sächsischen Maler, der gelassen das große Wort ausspricht: »Gott«, sagte der Sachse, »Gott. Bei uns in Sachsen glaubt keen verninftiger Mensch mehr an den lieben Gott.« Und so. Aber eben doch um die entscheidende Spur zu dünn.

In der herrlichen Schilderung von Paris, das Hessel so gut kennt, steht anläßlich einer leicht ironischen Schilderung von sozialistischen Demonstranten: »Dürfen wir urteilen über Menschen, die eine Sache, eine Fahne haben? Ist unsre Unbefangenheit, die vor einem Dutzend Jahren noch Recht und Freiheit war, jetzt nicht Schuld und Leere?« Ja, Franz Hessel – das ist sie. Schuld und Leere.

Es ist in diesem Buch etwas Grundsätzliches, etwas, das Beachtung über den Einzelfall hinaus verdient. Es ist ›der Kreis‹. Es ist die Zugehörigkeit zu jenen kleinen Cliquen, die nicht einmal Unheil anstiften, die oft viel Gutes und noch mehr Amüsantes tun – aber es ist doch eine große Überschätzung der kleinen Umwelt. Es sind jene, die von den Angehörigen des Kreises gern mit vollem Namen sprechen, um auszudrücken: »En voilà quelqu'un!« – »Franz Meckauer hat mir erst neulich gesagt … « Der Fremde horcht auf. Sollte hier vielleicht eine Lücke in seiner Bildung sein? Wer ist Franz Meckauer? Niemand: irgendein Freund. Aber die tausend Assoziationen, die bei den Kreislern mitschwingen, sind überbetont; hier stimmt etwas nicht. Ich habe vor dem Kriege einmal in Berlin so einen Kreis gekannt; ein Mediziner stand im Mittelpunkt, und wenn man da hineintrat, dann umgab einen ein Brodem von Geistigkeit, von Hochmut, von Witz, von übersteigertem Selbstbewußtsein, von Inzucht … und was sind sie alle geworden, die Herren des Kreises? Ach, du lieber Gott. Nein, so geht das nicht. Es ist ein buntes Philisterium, das dann entsteht, wenn so ein Kreis erstarrt. Und wenn nun einer von ihnen gar etwas wird: dann ist die ganze Gesellschaft auf die hohe Notierung, die das Mitglied bei den eben noch verachteten ›Bürgern‹ findet, so maßlos stolz, und die Duzfreundschaft mit dem Mann, der – man denke! – in den Zeitungen verhimmelt wird, wirkt sich herrlich aus … Nein, nein – es ist nichts damit.

Hessel ist ein netter Mann – ich sage das nicht gegen ihn. Es bewirkt nur nichts, was sie da treiben. Hessel erscheint für die, die ihn zu kennen nicht die Freude haben, noch einmal in der Autobiographie einer ältern Dame: der Tochter eines englischen Pastors und einer österreichischen Turnlehrerin; das späte Mädchen schreibt unter dem Pseudonym Oscar A. H. Schmitz … und hat auf diese Weise eines der buntesten Bilderbücher selbstgefälliger und aufgeweckter Dummheit geschrieben, das mir bekannt ist. Ein ewiger Primaner. Auch aus diesem Büchlein ist zu ersehen, dass Franz Hessel immer so gewesen ist – und wenigstens ehrlich.

Ja, das wärs. Dann liegt da noch in der Nachttischschublade eine kleine Schachtel, und in der schläft eine ganz alte, ganz verstaubte Gelatine-Kugel mit Rizinusöl, eine Bombe, die vergeblich wartet, dass sie einer abfeuert. Und zwei vergilbte Stecknadeln. Und ein Kalenderblatt. Und ein Heftchen mit frommen Sprüchen sogenannter Arbeiterdichter, darunter Karl Bröger, der nun glücklich bei der Bekämpfung des Schmachfriedens angelangt ist … Pröhn. Pröhn.

Peter Panter
Die Weltbühne, 15.10.1929, Nr. 42, S. 593.