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Der jüdische Untertan

Zu dem Fall Berliner stellt die ›Kreuz-Zeitung‹ fest, dass Herr Berliner nicht der jüdischen Religion angehört, wie sie zuerst angenommen hatte und wie auch sonst allgemein angenommen worden war.

Also lohnt es sich vielleicht doch, für den Mann, der da ein Vierteljahr in Rußland festgehalten wird, etwas zu tun. Sieh mal an: der Mensch ist ja gar kein Jude! Denn wenn er einer wäre, käme er überhaupt nicht in Betracht, bekanntlich werden die Juden nur als Steuerzahler unter die Rubrik ›Deutsche‹ gebucht, und wenn draußen einer gefangen wird, dann haben wir drinnen einen weniger.

Was aber das Ansehen der deutschen Nation vor dem Auslande angeht, so ists noch ein ganzes Stück bis zu den Engländern, die um irgend einer Gouvernante willen keine Flottendemonstration scheuen; sie haben sehr gut erkannt, dass es gar nicht auf die Gouvernante, sondern auf sie selbst dabei ankommt, und dass sich ein Volk schmutzig blamiert, das im Lande den Gegensatz von Untertanen und Beamten (den es verfassungsrechtlich nicht mehr gibt) durch viele große Mäuler proklamieren läßt und das außerhalb kriechend klein beigibt, weil es keine Autorität mehr hat.

Die Jämmerlichkeit dieser Geschickelenker wird erschreckend deutlich: es ist kein Kunststück, wehrlose Streikende mit Polizeifäusten zu regalieren, es ist aber wohl eins, einer schikanierenden fremden Bürokratie den Standpunkt klarzumachen. Ein Zehntel der Energie, mit der man hierzulande die Opposition der Regierung bekämpft, wäre hinreichend genügend.

Warum tut mans nicht? Weil der Berliner ein Jude sein soll. Nein, er ist kein Jude? Na, man wird wegen irgend eines Koofmichs nicht gleich mobil machen. Er ist Ingenieur? Also kurz und gut: er ist deutscher Untertan und zwar nur ein Stück, und es verlohnt sich eben nicht. Moralische Werte kommen nicht in Betracht, eine energische Sprache führen diese Beamten nur ihren eigenen Landsleuten gegenüber, die sich Grobheiten und Ungezogenheiten gern gefallen lassen. Der russische Autokrat ist immerhin ein Kerl und verbittet sich jede Einmischung.

Und sind sie nicht trotz aller Gegensätze Brüderchen? Schädigen sie nicht beide den Oppositionsmann, wo sie können? Nur hat der eine sein Sibirien und der andere leider nicht, aber die Verwandtschaft ist unverkennbar.

Wenn Herr Ingenieur Berliner einmal aus Rußland zurückkommt – Gott weiß, wann, Gott weiß, wie, – dann wird er an der deutschen Grenze niederknieen und beten: »Lieber Gott! Erleuchte meine Landsleute, damit sie wissen, wer über ihnen sitzt. Mache meinen Mund beredt und meine Zunge beweglich, auf dass ich laut ausspreche, was ist. Laß mich sagen, dass der ein Feigling ist, der zu Hause mit der Faust auf den Tisch schlägt und draußen katzbuckelt, der uns zu Hause schikaniert und einzwängt und sich vor Besorgtheit nicht lassen kann, und der uns niemals aus einem Elend herausholt, in das uns der Fremde gesteckt hat. Laß mich sagen, dass der ein Schuft ist, der einen, und wäre es auch nur ein einziger, Landsmann nicht heraushaut. Lieber Gott, verleihe mir die Kraft der Rede! Amen.«

Aber er wird sich was.

Ignaz Wrobel
März, 01.04.1914, Nr. 18, S. 608.