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In der ersten Reihe

Unmittelbar vor mir bummert der Mann auf seinem Flügel – ich höre nur Rhythmus, und das ganze große Orchester macht die Begleitmusik dazu. Kaum habe ich Zeit, mich herumzudrehen und zu gucken, was sie aus dem Tanzlokal Moulin Rouge gemacht haben: ein großes Theater – dann muß ich nach vorn sehen, was es da alles gibt.

Die Mistinguett ist noch nicht da, vorläufig hopsen noch die halb- und dreiviertelnackten Mädchen umher; manche, die feineren, tragen ein enggewickeltes Leibchen von zweifelhafter Weiße, dunkelweiß, sozusagen. Eine ist rührend dünn, sieht aus wie ein gerupfter Sperling. Eine wackelt mit den Brustspitzen, hat aber durchaus schwarze Zähne. Man sieht von hier vorn ein bißchen zu genau; man sieht: die Fratze der Revue.

Ah, wie ich das kenne:

Die Hausvertraulichkeit; die winzigen Späße während der Arbeit; das gelangweilte Interesse an allen Vorgängen auf der Bühne – einmal ist große Heiterkeit im Orchester: der Kapellenmeister lächelt, die Bratschen feixen, das Saxophon grinst, und mein Pauker am Flügel reißt den Mund auf. Die nackte junge Dame, die an der linken Säule lehnt, weiß, warum gelacht wird, sie verbeißt sich aber ihre privaten Empfindungen. Sie wechselt nur einen schnellen Blick mit den Musikarbeitern, dann bewegt sie die Arme, wie es ihr Tanzmeister befohlen hat. Dafür wird sie bezahlt. Und nun hüpft die ganze Bühne.

Diese Revue hat einen Vorzug vor allen andern in Paris: Tempo. Das geht wie geschmiert, eine Nummer rattert nach der andern herunter, und es sind recht gute dabei. Karikierte Herrenmoden: drei Männer mit riesig weiten Pluderhosen, mit noch größeren Mützen, mit ungeheuren Westen … sehr hübsch. Jetzt singt oben eine beklagenswerte dicke Dame ein schmachtendes Lied zu all der Nackigkeit, das Orchester seufzt auf, der Mann am Flügel wiegt sich. Und dann wird es plötzlich ganz laut, die Pauke sitzt glücklicherweise auf der andern Seite des Theaters, die Saxophone quäken, ein Takt, den ich kenne, tönt, ›Valencia!‹ singt das Orchester – da ist Mistinguett.

Sie ist alt, aber das Publikum nimmt sie immer noch auf den Arm. Wenn sie parisert, rauscht es durch die Stehplätze – da fühlen sich alle zu Hause. Sie singt ›Valencia‹, das Lied mit der Pause und dem Trommelrhythmus, wie eine Maschine arbeitet der Takt. Sie ist frech und steht allemal in der ersten Reihe; sie hat die größten Reiher und die grünsten Kostüme. Aus der Kulisse langt die Hand des Beleuchters, das Orchester tost; krack! macht es vor mir, da ist dem Flügel eine Saite aus dem Leib gesprungen, traurig liegt sie da und leuchtet matt. Oben geht Mistinguett umher und macht das Gesicht ihrer Jugend.

Ja, sie ist noch gut. Einmal kommt sie im braunen Röckchen, mit wirren Haaren; sie balgt sich mit bösen Männern im Wald herum, spielt mit einem Affen – da ist ein Augenblick, ein ganz kurzer nur, in dem versagt ihr die Stimme, als sie dem Affen erklärt, wie das mit der Liebe ist … gut. Dann quetscht sie wieder die Stimme, ist ›richtig‹, sagt ›nib‹ statt ›rien‹ und erfreut die Fremden, die sie kaum verstehen, kaum fühlen, und alle Franzosen, die da sind. Die Lokalanspielungen verpuffen hier.

Und ich sehe jedes Puderkörnchen, die Falten, die verlängerten Augenbrauen – auch dies ist schön. Auch weiß ich schon immer vorher, was kommen wird: in den Soffitten stehen die Auftretenden und warten, ungeduldig mit den Füßen scharrend, auf ihr Stichwort; einmal geht die Mistinguett im braunen Kittelchen ab und sieht noch eine Sekunde auf die nächste elegante Tänzerin; mit einem himmlischen Gassenjungenblick umfaßt sie die feine Dame und tanzt dann ab, die ganze Unsinnigkeit der tanzenden Eleganz in den Beinen, alles im braunen Kittelchen; von oben baumeln ein paar nackte Beine auf die Bühne; das ist eine ganze Vogelstange voll nackter Mädchen, die wohl gleich heruntergelassen werden, richtig, da sind sie … und so geht diese Revue hin.

Ich lerne eine neue Technik der Couplets kennen, aus der sich auch für Berlin viel machen ließe, aber ich werde doch keine Geschäftsgeheimnisse verraten. Ein darstellerischer Schlager ist da: »Ich bin nicht so eine, wie Sie glauben«, danach: »Was wollen der Herr denn anlegen?« – und das auf alle Geschlechter übertragen, auf die Politik … Und immer wieder ›Miss‹, die die Leute hopp nimmt.

Unmöglich, mit dem Bankier aus Berlin neben mir ein Wort zu sprechen. Ich sehe nur, wie er die Lippen bewegt; was er sagt, wird von dem alles zermalmenden Lärm der Musiker verschlungen. Jetzt winkt er dem Klaviermann, er solle leiser spielen. Der lächelt und spielt lauter. Mein Nachbar kommt von der berliner Börse und ist lärmempfindlich: ein seltsames Naturspiel.

Und dann ist es aus: noch einmal singt alles ›Valencia‹, auf der Szene stehen hundert junge Damen mit leuchtenden Trommeln und trommeln den unerbittlichen Takt, das Orchester macht einen Höllenlärm, ich weiß jetzt endlich – mitten in Paris –, was die hinter uns sitzende berliner Rechtsanwaltswitwe für eine Geborene ist – und nun gehen alle nach Hause. Das Orchester ist noch sitzen geblieben und schmettert uns ›Valencia‹ nach. Nein, es schmettert nicht – jetzt sitzen sie ganz still und singen leise, ohne Instrumentenbegleitung, den Refrain, der populär gemacht werden soll. Es hört sich an wie verhallender Gesang auf der Wolga. Nun bin ich auf der Straße, klappe den Kragen hoch und gehe aus dem Fremdenzimmer wieder nach Hause, wieder nach Paris.

Peter Panter
Vossische Zeitung, 25.04.1926.