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E. R. Curtius' Essays

Ein Führer durch die französische Literatur

Wenn hier öfter von französischen Büchern und Neuerscheinungen die Rede sein soll, so werden die Berichte, wie sie ein einzelner zu geben vermag, kleine Landpartien in ein fremdes Gebiet sein. Die große Landkarte liegt vor und kann nicht genug gerühmt werden: ›Französischer Geist im neuen Europa‹ von Ernst Robert Curtius (Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart). Es ist die beste deutsche Publikation über Frankreich, die mir aus den letzten Jahren bekannt geworden ist.

Curtius ist der Typus des deutschen Gelehrten, der fast verschollen scheint: er kennt seine Sache, versteht mit dem Mikroskop umzugehen, ohne kurzsichtig zu sein – und er ist politisch ehrlich objektiv. Wir sind nicht verwöhnt; das Gros der Professoren macht, schlecht versteckt, üble Propaganda für ebenso üble Ideen, und dazu steht dieser gesamte ›völkische‹ Kram ungefähr auf dem Niveau schlechter Volksredner.

Es kann vor allem Curtius nicht hoch genug angerechnet werden, dass er nicht im Sumpf des Snobismus steckengeblieben ist. Bei ihm werden wir belehrt, und nicht kaltlächelnd verachtet, weil wir irgendeine französische Modegröße nicht gelesen haben, die es meist auch nur für Berlin ist. Hier spricht einer, der beide Völker, das deutsche und das französische, genau kennt, beiden von Herzen zugetan ist und nach genauer Durchforschung ihrer Geschichte urteilt und urteilen darf.

Der Leser findet in dem Band eine minutiöse Untersuchung über Marcel Proust, Essays über Paul Valéry, Valéry Larbaud und die wichtigsten Kritiker Frankreichs, die insofern eine größere Rolle als die Kollegen in Deutschland spielen, als ihre Kritik schöpferischer ist.

Was ganz besonders lobend erwähnt zu werden verdient, ist die kluge und feine Mischung von Formenverständnis und materieller Beurteilung. So vertieft sich etwa Curtius in den Rhythmus der Prosa Prousts, in die letzten feinsten Schwingungen dieses komplizierten Stils – und sagt, genau so klar, genau so bestimmt, genau so fest: dieses Leben, dieses Werk, diese Gesellschaftsschicht basieren auf einer Rente. Sie sind ohne Reichtum nicht möglich. Das ist eine objektive Feststellung, sein Lied kann sich nun jeder selbst darauf singen.

Und je länger ich die literarische Wasserscheide der Vogesen betrachte, um so klarer kommt mir zum Bewußtsein, dass Werturteile über fremde Kulturen zunächst nur etwas über den Beurteiler aussagen und herzlich wenig über den Beurteilten. Behauptet etwa einer, er könne mit Proust und Valéry überhaupt nichts, dagegen mit Larbaud sehr viel anfangen, sagt er etwa, die letzten Feinheiten in der Beschreibung eines Fliederstraußes sagten ihm nichts, solange Leute hungerten, Leute totgeschossen würden, Leute in Gefängnissen heulten – so ist das ein durchaus verständlicher politischer Materialismus –, aber an die fremden Dichter kommt man nicht so heran. (Noch weniger freilich, indem man kritiklos vor ihnen auf dem Bauch liegt.)

Curtius ist der einzige mir bekannte Literarhistoriker, der sich erlauben darf, den Satz auszusprechen, dass die ersten, sublimsten Ausschläge des Geschichts-Seismographen in der Geistigkeit eines Landes wahrgenommen werden und nicht in seiner Wirtschaftslage. Darüber kann man sich unterhalten – er aber darf es sagen, weil er neben den Formwerten niemals den Grund und Boden vernachlässigt, auf dem jene erwachsen sind.

Um die ganze Höhe und Weite dieses Werks zu ermessen, braucht man nicht einmal in jene engen Tiefen zu steigen, in denen die deutschen Professoren des Patriotismus hausen, wie etwa jener Josef Hofmiller von den ›Süddeutschen Monatsheften‹, ein Mann, der vor dem Kriege durchaus brauchbare und gute Versuche veröffentlicht hat. Wie tief einer sinken kann, zeigt das Zitat, das Curtius von ihm gibt, und in dem Hofmiller erklärt, die französische Literatur sei eine solche aus zweiter Hand und zweiten Ranges, auch sei die französische Sprache ›nasal getrübt‹. Dieser Professor, den man sich nicht ohne einen baumwollenen Regenschirm vorstellen kann, ist nicht nur nasal getrübt, und wir wollen ihn getrost seinen Lesern überlassen.

Dieses Buch aber sei empfohlen. Man liest es mit Gewinn, man lernt daraus, man sieht weiter, über die Grenzpfosten hinweg. Man ersieht daraus, wo das so komplizierte Geistesleben Frankreichs heute steht; man erkennt die Gründe für die scheinbare Nichtachtung des Fremden, man unterscheidet die Kräfte, die von einem festen Mittelpunkt aus nach draußen streben – man versteht aufs neue die lebendigen humanistischen Tendenzen der Lateiner.

Und man wünscht sich über die Bindung der Geistigen hinweg eine festere Bindung beider Länder. Daß Max Scheler nach Frankreich fährt und dort diskutiert, will mir noch nicht viel bedeuten. Ich habe behalten, was er im Kriege geschrieben hat, das Gute und das Schlechte. Ich wünschte – und sicherlich viele mit mir – daß, von solchen Unterhaltungen ausgehend, sich die Massen der arbeitenden Klassen durchdringen und verstehen. Eine größere gegenseitige Befruchtung durch zwei Völker ist nicht denkbar.

Peter Panter
Vossische Zeitung, 03.01.1926, Nr. 4.