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Pariser Chansonniers

Der Senior ist etwa siebenundsechzig Jahre alt und heißt Hyspa – ein sauberer, weißbärtiger Herr in schwarzem Röckchen, der mit einer historisch knarrenden Stimme leise Lieder von großen Papierbogen absingt. Ab und zu glückt ihm ein Schlager allererster Güte, wie der vom ›Sans rien dire – sans rien dire –‹, ohne Worte, ohne Worte … Da hat er ein altes Kitschlied neu bedichtet, nun geht es auf den Präsidenten der Republik, der immer lächelt. »Avec son plus beau sourire« tut er alles: »er trinkt sauern Ehrenwein, sans rien dire, sans rien dire; er hält lange Reden, sans rien dire, sans rien dire; er schießt, auf einer Jagd bei Rambouillet, Herriot in den Popo, avec son plus beau sourire.« Wenn Hyspa das singt, funkeln seine kleinen schwarzen Äuglein wie lackierte Knöpfe.

Bastia ist dick und sieht aus wie der Sohn eines Raubvogels und eines jüdischen Kammerdieners. Er kommt heraus und muschelt erst einen langen Salm durch die Nase, es ist eine Art Einführung, die er gleichgültig zu Boden fallen läßt. Da liegt sie. Über sie hinweg singt der Kammervogel.

Seine Texte gehören zum Allerbesten, was die politische Liedersatire von Paris zur Zeit herzugeben hat. Da ist ein Chanson: ›Les prisons de France‹, eine monotone Beklagung des hin und her geworfenen Caillaux, gradezu ein Musterbeispiel von witziger Frechheit. Bastia hat gar keine Stimme, aber so viel Witz! Von ihm stammt jene unverschämte Verquickung von Psalm und Politik: zu fingierten Harmoniumklängen des Klaviers spricht die modulierende, verquetschte Stimme einen biblischen Text. »Und Herriot ging aus, an den Golf von Lyon, und er verteilte hundert Painlevés unter das hungernde Volk – und er redete so lange, bis alle satt waren … « Bastias Technik, die Pointen fallen zu lassen, erinnert sehr an Berlin.

Was das betrifft, so dürfte Dorin gradezu an der Panke geboren sein. Wenn er an der Spitze des Witzes angelangt ist, zieht er ganze Sätze zu einer Silbe zusammen, das Refrainwort »Pourquoi pas?«, das er allen Ereignissen anhängt, besteht überhaupt nur noch aus einem Schnaufer – und auch ihm verdankt man eine Kunstperle bester Güte: das Gedicht von der Ehe. Zwei sitzen zusammen, seit fünfundzwanzig Jahren, rein zum Ekel wird man sich, wie es bei Wilhelm Schäfer heißt – und auch Geschichten zu erzählen hat wenig Wert. Jeder weiß alles vom andern – und der andre weiß das …

»Car je sais que tu sais,
et je sais que tu sais que je sais,
et je sens que tu sens,
et je vois que tu vois que je vois que tu vois –«

Heiliger Strindberg, ist das eine Geschichte! Und das alles in einer Silbe, und das Publikum bekommt Erstickungsanfälle und erholt sich erst, wenn jener von der Bühne abgetobt ist.


Jetzt aber wollen wir einen gebührenden Zwischenraum frei lassen, denn es naht Martini. Auguste Martini. Der ist allerdings das Ende von weg.

A. Martini, ein runder Mann mit Flatterschlips, mit freundlich runder Brille und ebensolchem Sitzgestell, ist ein ganz böses Luder. Er schreibt nicht nur hervorragend gehässige Antirepublikanismen im ›Charivari‹, er sagt sie auch auf, und wenn er seine dicksten Unverschämtheiten losläßt, die durchweg reaktionär sind, dann zeigt er die Zähne und lächelt wie seine eigne Tante und überhaupt wie eine Tante – und manchmal legt er auch ein kleines Tänzchen ein und gaukelt mit den dicken Händen, und alles erklärt er mit dem dicken Zeigefinger, so wie ein kleiner Junge, der eine Geschichte erzählt … Und so sind diese Geschichten auch. Man muß hören, wie er die Hochzeitsnacht der nicht mehr jungen Schauspielerin Cécile Sorel, einer berühmten tête de Turque, beschreibt: »Notre chère Sénile Sorel« – wie er treuherzig berichtet, jene habe zur Feier ihrer Vermählung 43.50 Francs für die Armen gestiftet. »On ne peut pas perdre tout à la fois … « Dann zeigt er die Zähne.

Und dazwischen erzählt er gute alte Witze und hervorragend gute neue, und dann sammelt er für den armen Loucheur, der so arm ist, dass er seit Jahren denselben Hut tragen muß: im ersten Jahr hat er das Hutleder erneuern lassen, im zweiten das Hutfutter, im dritten das Band – und im vierten hat er ihn im Café vertauscht … Und alles erklärt der kleine, dicke, kindliche Zeigefinger.

Martini, du Aas. Sei froh, dass du nicht in Deutschland lebst. Da nehmen sie alles ernst: den eignen Beruf, sich selbst und nun gar die Revuen und das Cabaret! Du wärst soziologisch-kapitalistisch-biochemisch eingestellt, rechts orientiert und überhaupt ein Problem. Sing weiter, Dicker. Gibs der Republik ordentlich. Und wenn du König geworden bist, dann will ich dir huldigen, denn ein Martin I. ist immer noch besser als ein Wilhelm II. oder ein Bürovorsteher imaginärer Größe.

Peter Panter
Die Weltbühne, 12.10.1926, Nr. 41, S. 590,
wieder in: Mona Lisa.