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Unbewusste Tugenden

8.

Unbewusste Tugenden. — Alle Eigenschaften eines Menschen, deren er sich bewusst ist — und namentlich, wenn er deren Sichtbarkeit und Evidenz auch für seine Umgebung voraussetzt — stehen unter ganz anderen Gesetzen der Entwickelung, als jene Eigenschaften, welche ihm unbekannt oder schlecht bekannt sind und die sich auch vor dem Auge des feineren Beobachters durch ihre Feinheit verbergen und wie hinter das Nichts zu verstecken wissen. So steht es mit den feinen Skulpturen auf den Schuppen der Reptilien: es würde ein Irrtum sein, in ihnen einen Schmuck oder eine Waffe zu vermuten — denn man sieht sie erst mit dem Mikroskop, also mit einem so künstlich verschärften Auge, wie es ähnliche Tiere, für welche es etwa Schmuck oder Waffe zu bedeuten hätte, nicht besitzen! Unsere sichtbaren moralischen Qualitäten, und namentlich unsere sichtbar geglaubten gehen ihren Gang, — und die unsichtbaren ganz gleichnamigen, welche uns in Hinsicht auf Andere weder Schmuck noch Waffe sind, gehen auch ihren Gang: einen ganz anderen wahrscheinlich, und mit Linien und Feinheiten und Skulpturen, welche vielleicht einem Gotte mit einem göttlichen Mikroskope Vergnügen machen könnten. Wir haben zum Beispiel unsern Fleiß, unsern Ehrgeiz, unsern Scharfsinn: alle Welt weiß darum —, und außerdem haben wir wahrscheinlich noch einmal unseren Fleiß, unseren Ehrgeiz, unseren Scharfsinn; aber für diese unsere Reptilien-Schuppen ist das Mikroskop noch nicht erfunden! — Und hier werden die Freunde der instinktiven Moralität sagen: „Bravo! Er hält wenigstens unbewusste Tugenden für möglich, — das genügt uns!“ — Oh ihr Genügsamen!