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Kenntnis der Not

48.

Kenntnis der Not. — Vielleicht werden die Menschen und Zeiten durch Nichts so sehr von einander geschieden, als durch den verschiedenen Grad von Kenntnis der Not, den sie haben: Not der Seele wie des Leibes. In Bezug auf letztere sind wir jetzigen vielleicht allesamt, trotz unserer Gebrechen und Gebrechlichkeiten, aus Mangel an reicher Selbst-Erfahrung Stümper und Phantasten zugleich: im Vergleich zu einem Zeitalter der Furcht — dem längsten aller Zeitalter —, wo der Einzelne sich selber gegen Gewalt zu schützen hatte und um dieses Zieles willen selber Gewaltmensch sein musste. Damals machte ein Mann seine reiche Schule körperlicher Qualen und Entbehrungen durch und begriff selbst in einer gewissen Grausamkeit gegen sich, in einer freiwilligen Übung des Schmerzes, ein ihm notwendiges Mittel seiner Erhaltung; damals erzog man seine Umgebung zum Ertragen des Schmerzes, damals fügte man gern Schmerz zu und sah das Furchtbarste dieser Art über Andere ergehen, ohne ein anderes Gefühl, als das der eigenen Sicherheit. Was die Not der Seele aber betrifft, so sehe ich mir jetzt jeden Menschen darauf an, ob er sie aus Erfahrung oder Beschreibung kennt; ob er diese Kenntnis zu heucheln doch noch für nötig hält, etwa als ein Zeichen der feineren Bildung, oder ob er überhaupt an große Seelenschmerzen im Grunde seiner Seele nicht glaubt und es ihm bei Nennung derselben ähnlich ergeht, wie bei Nennung großer körperlicher Erduldungen: wobei ihm seine Zahn- und Magenschmerzen einfallen. So aber scheint es mir bei den Meisten jetzt zu stehen. Aus der allgemeinen Ungeübtheit im Schmerz beiderlei Gestalt und einer gewissen Seltenheit des Anblicks eines Leidenden ergibt sich nun eine wichtige Folge: man hasst jetzt den Schmerz viel mehr, als frühere Menschen, und redet ihm viel übler nach als je, ja, man findet schon das Vorhandensein des Schmerzes als eines Gedankens kaum erträglich und macht dem gesamten Dasein eine Gewissenssache und einen Vorwurf daraus. Das Auftauchen pessimistischer Philosophien ist durchaus nicht das Merkmal großer, furchtbarer Notstände; sondern diese Fragezeichen am Werte alles Lebens werden in Zeiten gemacht, wo die Verfeinerung und Erleichterung des Daseins bereits die unvermeidlichen Mückenstiche der Seele und des Leibes als gar zu blutig und bösartig befindet und in der Armut an wirklichen Schmerz-Erfahrungen am liebsten schon quälende allgemeine Vorstellungen als das Leid höchster Gattung erscheinen lassen möchte. — Es gäbe schon ein Rezept gegen pessimistische Philosophien und die übergroße Empfindlichkeit, welche mir die eigentliche „Not der Gegenwart“ zu sein scheint: — aber vielleicht klingt dies Rezept schon zu grausam und würde selber unter die Anzeichen gerechnet werden, auf Grund deren hin man jetzt urteilt: „Das Dasein ist etwas Böses“. Nun! Das Rezept gegen „die Not“ lautet: Not.