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Michel Bréal

Solche Beobachtungen an den lebenden und an den toten Sprachen führen uns zu der Überzeugung: wir haben nicht die entfernteste Vorstellung von der Artikulation derjenigen Laute, welche in irgendeiner Urzeit bei der Schöpfung der Sprache verwandt wurden. Wir haben kein Recht, jene Urlaute unartikuliert zu nennen; wohl aber würden sie unserer Artikulationsgewohnheit als unartikuliert erscheinen. Ein französischer Forscher, Michel Bréal, der Übersetzer Bopps, ist schon nahe zu diesen Gedanken geführt worden.

In einem Aufsatze über "die indoeuropäischen Wurzeln" (Mélanges de Mythologie et de Linguistique S. 375 usw.), einer der feinsten und reifsten Arbeiten, denen ich auf dem Gebiete der Sprachwissenschaft begegnet bin, kritisiert Michel Bréal die Versuche, eine indoeuropäische Ursprache zu konstruieren. Sein Leitmotiv ist so klar und überzeugend, dass es für die Wissenden allein genügen müßte. "Es heißt die Logik auf den Kopf stellen, wenn man unsere Sprache mit Hilfe der indoeuropäischen Ursprache aufhellen will." Denn, diese Ursprache, von der uns die Geschichte der Menschheit nicht ein Sterbenswörtchen verrät, sei ja selbst nur eine Hypothese, ein bequemes Schema, um die Ähnlichkeiten der angeblichen Tochtersprachen zu erklären. Mit demselben Rechte könnte man etwa so verfahren: man läßt von einem gefälligen Maler den Urahn eines Geschlechts (nach den Köpfen der lebenden Familienglieder und nach den Porträts der Väter und Großväter) schematisch konstruieren und schließt nachher, es sei die Blutsverwandtschaft der lebenden Glieder des Geschlechts aus der Ähnlichkeit mit dem konstruierten Urahn zu beweisen. Mit bemerkenswerter Freiheit läßt Bréal den gesunden Menschenverstand gegenüber den sogenannten Lautgesetzen zu seinem Rechte kommen, wenn er z. B. die schreiende Ähnlichkeit zwischen theos und deus für durchaus nicht zufällig hält, trotzdem die neuere, an die Lautgesetze gebundene Sprachwissenschaft nichts mit ihr anzufangen weiß. Es liege in der Natur der Beobachtungswissenschaften, von Tag zu Tag anspruchsvoller gegen sich selbst zu werden; ... in der Sprachwissenschaft wie anderswo erfahren wir, dass die Welt nicht dort angefangen hat, wo unser Blickfeld endet. Und in seiner Untersuchung selbst kommt Bréal zu dem Schlüsse, es sei aus den Wurzeln keine Belehrung zu ziehen für die Frage nach dem Ursprung der Sprache. "Das erste Stammeln des Menschen hat nichts gemein mit den in ihrer Form so fest begrenzten und in ihrer Bedeutung so allgemeinen Lautzeichen wie dhâ (stellen), vid (sehen, wissen), man (denken). Der Irrtum wäre ungefähr derselbe, wenn man die alten griechischen Münzen mit ihrer reinen Prägung für das erste von den Menschen erfundene Tauschmittel ausgeben wollte."