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Erfindung

Die dritte Klasse der Ursprungstheorien umfaßt die altklugen Schlußfolgerungen, mit denen die scheinbar gesättigte Aufklärungszeit von dem menschlichen Verstande alles das herleitete, was früher der liebe Gott durch ein Wunder geschaffen haben sollte. Die Aufklärer, besonders die einseitigen Aufklärer Frankreichs, übersahen durchaus den Unterschied zwischen Natur und Kunst, zwischen Organismus und Mechanismus. Wir können, ohne uns zu erhitzen, heute lächelnd sagen, dass es nur ein Mangel an Sprachgefühl war, wenn sie den menschlichen Organismus mit einer Maschine verglichen. Sie fühlten den Unterschied nicht ganz zwischen einem künstlichen Bein aus Holz und einem Bein von Fleisch und Blut; sie fühlten den Unterschied gar nicht zwischen einem der im 18. Jahrhundert berühmten Automaten von Vaucanson und einer schreibenden Hand, zwischen einer künstlichen Sprechmaschine und den menschlichen Sprachorganen. Wir können ihre aufklärerischen Anschauungen nur schwer kritisieren, weil unsere Sprache noch größtenteils die Sprache des Aufklärungszeitalters ist. Neu ist uns fast allein der Begriff der Entwicklung. Mit seiner Hilfe werden wir am besten das Grundgebrechen der aufklärerischen Weltanschauung aufdecken. Es äußert sich naturgemäß gerade in der Sprachtheorie am krassesten.

Denn der Mangel des Entwicklungsbegriffs ließ die revolutionärsten Franzosen der Aufklärung in die ältesten Zeiten, in irgendeine Urzeit immer wieder Franzosen des 18. Jahrhunderts hineindenken. Sie konnten sich römische Kaiser, jüdische Patriarchen, sie konnten sich halbwilde Urmenschen vorstellen; weil ihnen aber die physiologische Entwicklung des Menschengehirns unklar war, darum steckten in den Römern, in den Juden und in dem Urmenschen immer wieder Pariser Zeitgenossen von Rousseau und Voltaire. So stolzierten ja auch in den Stücken von Racine Griechen und Juden über die Bühne, redeten aber die Gedanken des Siècle Louis' XIV. und trugen das Kostüm Louis' XIV.; Rousseaus Sehnsucht nach dem Urzustande der Menschheit hängt damit zusammen. Er hatte keine Vorstellung von der Geistesentwicklung der Menschheit. Er stellte sich — unklar natürlich — den von ihm gepriesenen Urzustand wie eine freiwillige Flucht aus der Kultur vor, wie eine bewußte Kulturfeindschaft und Menschenverachtung, wie eine vorübergehende Schäferidylle, eine nach Wunsch wieder mit Paris zu vertauschende Eremitage. Sein Urmensch war in Tierfelle gekleidet und nährte sich von Milch und Früchten; dabei gedachte dieser Urmensch aber verächtlich des Theaters und der Gaststuben im Palais Royal. Das Gefühl seines Urmenschen war nicht Not, sondern Stolz.

Da der gepriesene Urzustand, nach welchem Rousseau sich sehnte und den auch andere Aufklärer wenigstens für eine uralte Zeit voraussetzten, demnach nur eine Maskerade von raffinierten Parisern war, so konnte es auf diesem großen Maskenfeste der Urzeit gar nicht schwer werden, die Sprache zu erfinden. Dass auch Erfindungen ihre Entwicklung haben, dass von dem Flechtwerke aus Binsen bis zum heutigen Dampfwebstuhl mit Revolverschiffchen und automatischem Stillhalter viel kleinere Übergänge führen, als den Geschichtsschreibern der Erfindungen zu erzählen bequem ist, das dürfte selbst unseren Zeitgenossen keine geläufige Vorstellung sein. Den Aufklärern erschien das Erfinden als eine noch viel absichtlichere Sache. Die Vorstellung von einer Absicht schien ihnen so selbstverständlich zu sein, dass sie ein absichtsloses Werden nicht begriffen, trotzdem sie diese großen neuen Gedanken schon bei Spinoza und Leibniz hätten finden können. Mit einem Worte gesagt: ihnen mußte der Begriff der Entwicklung fehlen, weil ihnen die unbewußten Vorgänge im Menschengeiste unfaßlich waren. Wohlgemerkt: die unbewußten Vorgänge; ich hüte mich wohl, von unbewußten Vorstellungen oder von einem unbewußten Willen zu reden.

Ich habe schon gesagt, dass allen diesen falschen Theorien irgendwo gute Beobachtungen zugrunde lagen. Das ist kein Verdienst der Menschen, das ist ein Zwang; selbst den tollsten Träumen liegen ja doch nur irdische Erinnerungen zugrunde. So kann man z. B. bei Condillac ganz genau das Bestreben wahrnehmen, zwischen der instinktiven Anlage zur Sprache und ihrer späteren bewußten Erfindung zu unterscheiden. Wenn man oberflächlich liest, so könnte man glauben, Condillac sei ein ganz moderner Denker. Wir müssen uns aber darauf besinnen, dass für uns auch die Weiterbildung der Sprache (wie sie ja unaufhörlich bei jedem gesprochenen Worte und auch in diesem Augenblicke vor sich geht) fast durchaus unbewußt sich entwickelt, was Condillac nicht ahnte, und dass er unter einem Instinkte weit eher einen unbewußten Willen als eine unbewußte Vererbung verstand. Seine Worte sind häufig unsere Worte, seine Gedanken scheinen also unsere Gedanken; wir können ihn vor Gericht oder auf dem Katheder oder bei jedem andern Schwatz als unseren gefälligen Zeugen aufrufen. Und doch wäre er ein falscher Zeuge. Gedanken sind nur Worte. Woran die Worte bei Condillac erinnerten, daran erinnern sie nicht mehr bei uns. Anderthalb Jahrhunderte neuer Wahrnehmungen liegen dazwischen.