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Urphänomen

Das Urphänomen dieser Aufmerksarnkeitsarbeit scheint mir die Beobachtung zu zeigen, daß die Menchen, manche in sehr hohem Grade, das Gefühl eines Schmerzes erwecken können, wenn sie auf irgend einen Teil ihres Körpers ihre gespannte Aufmerksamkeit richten. Ich kann, wenn ich meine innere Aufmerksamkeit andauernd auf eine bestimmte Fingerspitze richte, nach einigen Minuten ein Gefühl feststellen, ein sehr leises allerdings, als hätte ich dort eine schwärende Stelle. Dieses Urphänomen belehrt uns aber nur darüber, daß an dem Punkte unseres Körpers (sei er nun an der Peripherie oder irgendwo im Gehirn), auf welchen die sogenannte Aufmerksamkeit gerichtet ist, mechanische Arbeit geleistet wird. Es ist offenbar, daß unter dem Drucke der Aufmerksamkeit nach der Fingerspitze oder nach dem Gehirn der Blutzufluß sich steigert. Es ist weiter beachtenswert, daß die Aufmerksamkeitsarbeit andere Körperarbeit beeinträchtigt, daß z. B. das Atemholen bei gespannter Aufmerksamkeit verlangsamt wird, bei plötzlichen Überraschungen stockt; nachher muß man wohl einen tiefen Atemzug tun.

Ich wiederhole, daß man dabei zwischen dem aufmerksamen Wahrnehmen und dem aufmerksamen. Denken nicht zu scharf zu unterscheiden braucht. Beim aufmerksamen Blicken ist die Nervenarbeit (und die grobe Muskelarbeit) für den Blickenden fühlbar, für seine Beobachter sichtbar; da die Vorstellungsbilder in unserem Gedächtnisse, wie ich oben gezeigt habe, wesentlich ebenso wirklich sind wie für uns die Körper der Wirklichkeitswelt, so haben wir das aufmerksame Vorstellen ebenfalls mit mikroskopischer Nervenarbeit zu verknüpfen. Gerade das hübsche Beispiel, welches Ribot (S. 173) von den vier Stufen gibt, welche die Aufmerksamkeit eines fleischfressenden Tiers von der unklaren Vorstellung einer Beute bis zum Zerreißen der Beute durchläuft, hätte ihn davon abhalten sollen, jede Erscheinung der Aufmerksamkeit an Muskelbewegungen binden zu wollen. Der satte Tiger richtet seine Aufmerksamkeit wahrscheinlich noch gar nicht auf eine Beute; und wann der Hunger in ihm die Vorstellung einer Beute zuerst erregt, so weiß unsere Physiologie da noch nichts von Muskeltätigkeit. Uns genügt es, in den Nerven des satten Tigers das ererbte Gedächtnis anzunehmen, das ererbte Interesse, also die Neigung, seine Aufmerksamkeit auf Beutejagd zu richten, im hungernden Tiger Nervenveränderungen, also Molekularbewegungen, die in Aktion treten. Für Erkenntnis der Übergänge von einem Zustand in den anderen wird die Physiologie wohl niemals etwas tun können, wenn sie es nicht einst lernt, die Differentialmethode auf diese mikroskopischen Vorgänge anzuwenden. Ich meine natürlich nicht eine deduktive Anwendung der Mathematik, wie sie Herbart begonnen hat, sondern eine mir vorschwebende Anwendung des Kalküls auf Blut und Nerven, auf die mechanischen und chemischen Bewegungen der Moleküle und Atome.

Wäre eine solche Anwendung des Kalküls einmal möglich; so würde der Materialismus triumphieren zu können glauben und würde schwerlich einsehen, daß auch dann noch das Unerklärbare vorhanden wäre, und zwar in dem Rest von Unerklärbarkeit, welche im Differentialbegriff verborgen ist. Die alte Frage nach dem Verhältnisse zwischen Körper und Geist, zwischen Leib und Seele würde unter einer neuen Form wieder auftauchen, wie sie jetzt an dieser Stelle der Untersuchung plötzlich unerwartet vor uns steht. Wir sind dahin gelangt. die Aufmerksamkeit zu beschreiben als das Gefühl der Anstrengung, welche das geistige Wachstum in uns erzeugt. oder: als das Bewegungsgefühl, welches die Bereicherung unseres Gedächtnisses begleitet. Wir versuchen also am letzten Ende, die Aufmerksamkeit, einen Zustand unseres Bewußtseins, durch wahrnehmbare oder angenommene, makroskopische oder mikroskopische Bewegungen, materielle Veränderungen im Gehirn zu erklären. Wir suchen, unwillkürlich unter dem Einfluß einer materialistischen, physiologischen Psychologie, eine Erscheinung des Seelenlebens durch eine wahrnehmbare oder hypothetische leibliche Erscheinung zu erklären. Zuletzt faßt uns aber doch die alte Frage und zwingt uns schüttelnd zu einer Antwort: wird die Aufmerksamkeit durch das Wachstum des Gedächtnisses hervorgerufen oder das Wachstum des Gedächtnisses durch die Aufmerksamkeit? Wirkt der Leib auf die Seele oder die Seele auf den Leib? Oder wirken sie gar wechselseitig aufeinander? Ein ganz prächtiger Anlaß zu einem scholastischen Wortgefecht. Wir werden, so weit der Gebrauch der Sprache es gestattet, die Lösung suchen.