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Aufmerksamkeit und Gedächtnis

Es sind doch vor allem die beiden Erscheinungen Aufmerksamkeit und Gedächtnis beim Menschen Äußerungen des Bewußtseins, aber mit einem wesentlichen Unterschied. Gedächtnis arbeitet auch unbewußt, im Schlafe, im Delirium; Gedächtnis ist, worauf ich mit besonderem Nachdruck hingewiesen habe, beim Wahrnehmen des einfachsten Lichtoder Schalleindrucks tätig, da das einfachste Wahrnehmen wie das höchste Begriffsbilden immer Klassifizieren ist. Gedächtnis muß also schon bei den untersten Formen des organischen Lebens vor allem "Bewußtsein" mittätig gewesen sein. Aufmerksamkeit dagegen bezeichnet beim Menschen geradezu eine besondere Helligkeit des Bewußtseins. Nicht ohne großen sprachlichen Zwang können wir von unbewußter Aufmerksamkeit reden, nicht ohne Willkür können wir der Amöbe Aufmerksamkeit auf die sie bewegenden Reize zuschreiben. Und wieder kommt uns unsere Beschreibung des Interesses zu Hilfe. Weil das Interesse in seinem tieferen Grunde nur eine Äußerung unseres Gedächtnisses ist, darum kann es ein unbewußtes Interesse geben, welches auf unsere Aufmerksamkeit wirkt, ohne daß wir eine unbewußte Aufmerksamkeit anzunehmen brauchen. Es enthüllt sich uns also das Gedächtnis, das wir schon als den das Interesse umfassenden Begriff kennen gelernt haben, als derjenige Begriff, der auch die Aufmerksamkeit unter sich begreifen mag. In der Sprache der Entwicklungstheorie können wir sagen: das Gedächtnis ist älter als die Aufmerksamkeit. Nicht nur das Gedächtnis des Kristalls, der sogenannten unorganischen Materie, und das Gedächtnis der Pflanze; wir müssen — wie wir bald erwähnen werden — auch da bestimmt ein Gedächtnis annehmen, können aber nichts finden, was der Aufmerksamkeit etwa entspräche. Aber auch beim Tiergedächtnis, beim Gehirngedächtnis also, müssen die Erinnerungserscheinungen den Aufmerksamkeitserscheinungen vorausgegangen sein. Dann aber werden wir freilich die oben gestellte Frage lachend ablehnen und sagen: wir kennen weder einen Gegensatz, noch eine Wechselbeziehung zwischen Aufmerksamkeit und Gedächtnis, wir kennen nur eine Entwicklung, innerhalb deren bald die allgemeine Tätigkeit des Gedächtnisses, bald ihr kleines Gebiet der Aufmerksamkeit schärfer beleuchtet und darum vorübergehend beachtet wird. Und da gewinnen wir aus dem Sprachschatze der Entwicklungstheorie eine kürzere Formel für unsere Definition der Aufmerksamkeit: Aufmerksamkeit ist die Anpassungsarbeit des Gedächtnisses. Daher der Choc, den unser seelisches Gleichgewicht bei Überraschungen erhält. Das Organ unseres Gedächtnisses hat nicht Zeit gehabt, sich anzupassen. Für das, was noch über die äußersten begrifflichen Beziehungen der Aufmerksamkeit zu sagen ist, wird es gut sein, an dieser Stelle an ein Wort Spinozas zu erinnern: "Nicht daraus, daß wir etwas als gut einschätzen, kommt die Anstrengung, das Wollen, das Streben. der Wunsch; im Gegenteil, wir schätzen etwas als gut ein, weil wir mit einer Anstrengung, mit einem Wollen, mit einem Streben und Wunsche danach hindrängen." Man wird hoffentlich den Zusammenhang zwischen diesem tiefen sprachphilosophischen Satze und unserer Definition der Aufmerksamkeit zugeben. Wir haben uns bemüht, den Begriff des Interesses aus der Tätigkeit der Aufmerksamkeit zu entfernen, um die Entwicklung zurückverfolgen zu können in die Zeit vor dem Bewußtsein, um ein Gedächtnis vor allem Interesse, vor allem Wollen, vor allem Bewußtsein aufzufinden. Auch Spinoza entfernt den Begriff des Bewußtseins aus der für das Interesse so überaus wichtigen Vorstellung vom Guten. Wir werden abermals sehen, daß die Aufmerksamkeit zuletzt nur eine Erscheinung des sogenannten Willens ist und daß darum der uns scheinbar so wohlbekannte Zustand der Aufmerksamkeit, der doch den Anfang aller Erkenntnistätigkeit darstellt, in Zusammenhang stehen muß mit unserem Wollen, welches unter seinem Trugbilde des freien Willens alle Begriffe vom Guten und somit die ganze Ethik hervorgerufen hat. Auf unserem nominalistischen Standpunkte könnten wir den Satz Spinozas so verallgemeinern: wir sind und leben nicht nach unserer Welterkenntnis oder unserer Sprache, sondern wir erkennen und benennen die Welt danach, wie wir sind und leben. Auch die erste Stufe unseres Erkennens und Benennens, die Aufmerksamkeit, ist durchaus davon abhängig, wie wir sind, es gibt in diesem Sinne keine freiwillige Aufmerksamkeit, keine aktive Aufmerksamkeit; objektiv gibt es nur eine unfreiwillige, eine passive Aufmerksamkeit. Die Aufmerksamkeit ist unfrei wie der Wille, unfrei auch da, wo sie willkürlich zu sein glaubt.