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Physiologische Deutung

Was die Aufmerksamkeit vor dieser letzten Frage sei, was sie für den materialistischen Physiologen sei, welche Art objektiver, chemischer oder sonstiger Molekularbewegung sie sei, das zu ergründen, habe ich weder versprochen noch mir vorgenommen. Wüßten wir es, oder wüßten es die physiologischen Psychologen, so wüßte man wieder nichts, weil ja doch die Aufmerksamkeit nur das subjektive Gefühl jener Arbeitsleistung ist, das unentdeckbare Innenleben jener Arbeit. Zuletzt hat unsere Physiologie doch keine Ahnung davon, wie die Kraft erzeugt wird, welche irgendwelche Nervenarbeit verrichtet. Für unsere Zwecke hat es auch ausgereicht, festzustellen, daß Aufmerksamkeit das Gefühl einer Arbeit ist; diese Feststellung kann ohne weiteres als gesicherte Hypothese angenommen werden auf Grund der allbekannten Tatsache, daß ein ermüdeter Organismus nicht wohl aufmerken kann, daß gespannte Aufmerksamkeit den Organismus lokal oder allgemein ermüdet. Es ist oft gesagt worden, daß die Metapher "gespannte Aufmerksamkeit" hergenommen sein mag von dem Gefühle der Muskelspannung, das wir bei angestrengter Aufmerksamkeit bald in den Sinnesorganen, bald (bei angestrengtem Denken) in den Muskeln der Kopfhaut empfinden. Ich habe schon oben das Gefühl in der Kopfhaut neben das Gefühl in den Augenmuskeln gestellt. Es ist, als müßten wir durch Kontraktion der Kopfhaut den Blutdruck im Gehirn vermehren. Ich möchte den Physiologen anheimgeben, aus der letzten Erscheinung das Verhältnis des Blutstroms und der Gehirntätigkeit womöglich zu studieren; ich möchte vermuten, daß die Störung der Aufmerksamkeit z. B. durch Nasenpolypen und durch die so hervorgerufenen Atembehinderungen die Wichtigkeit des Blutzustroms für die Aufmerksamkeit beweise. Aber es kommt mir wirklich auf diese biologischen Tatsachen nicht an, die doch immer nur genauere Beschreibungen der allgemeinen Beobachtung wären: Aufmerksamkeit ist die Empfindung einer physiologischen Arbeit.

Aufmerksamkeit ist die Arbeit, durch welche das Gedächtnis seine Anpassung vollzieht, einerlei ob ein äußerer Sinneseindruck, wie ein aufspringender Hase, das im Sehapparat angehäufte Gedächtnis zu einer objektiv wahrnehmbaren Anpassung reizt, oder ob ein durch Assoziation auftauchendes Bild unwahrnehmbare Anpassungen fordert. Auch Erinnerungsbilder, sie sind ja wirklich, reizen das Nervensystem zur Arbeit. Was für unsere Empfindung Aufmerksamkeit heißt, dasselbe heißt für unser Gedächtnis oder für unsere Sprache oder für unser Bewußtsein: die Arbeit der sogenannten Apperzeption. Ich möchte es nicht ewig wiederholen, daß Apperzeption Bereicherung des Bewußtseinsinhalts um einen neuen Eindruck ist, das Bewußtsein aber nur die Summe der ererbten und erworbenen Gedächtnisse. Nur wieder ein alltägliches und doch neues Beispiel: wird auf dem Klavier ein Akkord angeschlagen, so apperzipiert der Musiker mit seinem ererbten und erworbenen Tongedächtnis alle einzelnen Töne. Ich Unmusikalischer kann aus dem Akkord einen einzelnen Ton nur dann heraushören, d. h. auf ihn aufmerksam werden, wenn er unmittelbar vorher allein angeschlagen worden ist und so in meinem schlechten Musikgedächtnisse noch lebt. Das Gedächtnis erzeugt in unserem Bewußtsein (eigentlich in sich selbst, denn die Sprache reicht wieder einmal nicht zu) den Schein des Interesses, und dieser Schein des Interesses läßt uns unter den äußeren Wahrnehmungen und inneren Bildern den Gegenstand unserer Aufmerksamkeit scheinbar frei auswählen.