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Gedächtnis und Ich, Doppel-Ich

Wenn eine Erinnerung so eingeübt ist, daß sie automatisch zur Verfügung steht, dann vergessen wir undankbar die Arbeit des Gedächtnisses. Wir erinnern uns, wann die Schlacht von Leipzig war, aber wir nennen den Satz: "Der Tag ist hell" so wenig eine Erinnerung, wie wir unsere Verdauung einem Gedächtnisse zuschreiben. Die Sprache ist eben leider notwendig, aus den Bedürfnissen des bewußten Gedächtnisses, aus dieser Hemmung, aus diesem Stolpern der Natur, aus diesen Anfängerstadien aller Instinkte, aus diesen schmerzenden Versuchen entstanden, und darum ist es unmöglich, der wirkenden Natur mit den Worten der Sprache beizukommen. Es ist schwer, es ohne falschen Nebensinn auszudrücken, daß wir das Gedächtnis unseres Geschlechtes als Erbteil mitbekommen, daß die menschliche Sprache das papierne Instrument oder Dokument dieses Erbteils ist, und daß die ganze Entwicklung nichts ist als die endlose Bemühung, zu erwerben, um mehr erben zu lassen. Ja, wir können uns ganz mechanisch — da alle Gewebe des menschlichen Leibes in ununterbrochener Erneuerung begriffen sind und auch die Nervenzellen mit ihren Erinnerungsspuren sich erneuern — wir können uns die Erhaltung der Gleise unserer Nervenbahnen, also das Gedächtnis des einzelnen Individuums, gar nicht anders vorstellen, denn als eine stetige Reihe von Erbschaften. Und ich empfinde es nicht als eine Blasphemie gegen den viel bewunderten Menschengeist, wenn ich überzeugt bin, daß das Molekül, welches in diesem Augenblicke dazu beiträgt, mich das Wort "Molekül" sagen oder schreiben zu lassen, die Neigung zu seinem Anteil an dieser Sprachtätigkeit ererbt hat von seiner Mutterzelle, diese wieder von ihrer Mutterzelle, und so zurück bis zum Keim im Mutterleib, und daß das grauenhafte Magazin von tierischen und pflanzlichen Eßwaren, das 50 Jahre lang durch mich hindurchgegangen ist, nichts weiter gleistet hat, als die endlosen Generationen von Hirnzellen ernähren und dafür sorgen, daß jedes neue Geschlecht die Merkzeichen der Ahnen wahrt, so daß die Fähigkeit zur Erinnerung und Wiedererkennung durch das Instrument der Sprache sich fortgeerbt hat bis zu dem Hirnzellengeschlechte dieses Augenblicks, dessen Begriffe oder Worte freilich gegen die von vor zwanzig Jahren den unmerklichen Wandel vollzogen haben, dem die Sprache eines Volkes auch sonst unterliegt in der Geschlechterfolge der Jahrhunderte. Die Tatsache, daß das Organ des Gedächtnissinnes wie alle anderen Gewebe des menschlichen Körpers einer stetigen Erneuerung durch das zuströmende Blut unterworfen ist, dazu die Überzeugung, daß die Hirnzellen, die augenblicklich denken oder sprechen, junge neue Geschöpfe sind, die ihren Sprachschatz nur ererbt haben, die ihn aber im Laufe der stetigen Erneuerung stetig neu anwenden, diese Sätze werfen ein Licht auf das Wesen der Persönlichkeit, des ehrenwerten Ich, das sich dagegen wehrt, ein Augenblicksgeschöpf zu sein. Das Ichgefühl ist und bleibt ein Augenblicksgefühl. Weil aber und wie die ganze ungeheure Lebenskraft sich in diesem Augenblick zusammendrängt, und weil der Augenblick der Ausgangspunkt oder der Haken einer Erinnerungskette ist, darum hat der Mensch im Ichgefühl den Schein der zeitlichen Ausdehnung. So sieht der Mensch mit seinen Augen, wenn sie gesund sind und das Objekt in den Blickpunkt fällt, nur diesen einen Punkt richtig, hat aber infolge der Beweglichkeit seiner Augen den Schein des großen Gesichtsfeldes. Und wie kranke Augen den Eindruck machen, als ob zwei Punkte zugleich fixiert werden könnten, so kann auch das Gehirn zu schielen scheinen, und die gefällige Sprache der Wissenschaftler redet dann von einem Doppel-Ich. Daß es eine Krankheitsäußerung sei, darüber sind auch seine Gelehrten nicht im Zweifel. Ich habe aber in allen ordentlich bezeugten Berichten nichts anderes entdecken können, als die kleine Tatsache, daß bei einigen schlecht beobachteten Gehirnkrankheiten hie und da Gedächtnisirrtümer oder dergleichen nach normalen Zwischenräumen aneinander anknüpfen, daß also (wie man annehmen kann) bestimmte krankhafte Ernährungs- und Erregungszustände die gleichen Merkzeichen des Gedächtnisses auslösen, die in normalen Zuständen unter der Schwelle bleiben. Der irische Packträger, der im Bausche einen Koffer verloren hatte und sich von neuem berauschen mußte, um sich an den Ort des Verlierens zu erinnern, dieser brutale Kerl ist der wahre Heilige des Doppelichglaubens.

Für uns muß die bloße Möglichkeit eines Doppel-Ichs, die Möglichkeit also, krankhafte Gedächtniszeichen einheitlich zu verbinden, nur ein Wink mehr sein, auch an die Wirklichkeit und an die Wesenheit des einfachen Ich nicht zu glauben. Davon später.