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Todessehnsucht

Es gibt keine Philosophie, es gibt nur Philosophien, d. h. es gibt Menschen, welche von den Grenzen des Wißbaren ein sehnsüchtiges Bewußtsein besitzen. Wir haben also nicht das Wort Philosophie zu definieren, sondern nur den Charakterzug der Philosophen zu erklären oder zu beschreiben, der Menschen, welche nicht nur andere Interessen, sondern auch die Freude am Wissen der schmerzlichen Wollust eines unstillbaren Erkenntnisdranges opfern. Diese Erklärung wird gehemmt durch eine überraschende Schwierigkeit.

Wir haben gelehrt, daß die Motive der Menschen entweder Hunger oder Liebe oder Eitelkeit sind. Wir wollen hier nicht untersuchen, inwieweit das Motiv der Eitelkeit mit dem Motiv der Liebe als der unbewußten Sorge für Nachkommenschaft verwandt sein kann. Wir wollen gefällig zugeben, daß Hunger, Liebe und Eitelkeit als böse Feen an der Wiege philosophischer Werke gestanden haben mögen, besonders seitdem die Philosophie ein Gewerbe und ein Ruhmestitel geworden ist. Aber dieses Zugeständnis ist doch nicht ganz ernst gemeint, es geht doch mehr auf das, was Schopenhauer so boshaft die Professorenphilosophie der Philosophieprofessoren genannt hat. Die Philosophien können aus den drei gemeinen Trieben hervorgehen, die philosophische Sehnsucht nicht. Sokrates und Spinoza waren nebenbei als Menschen gewiß hungrig, verliebt und wohl auch einmal eitel; ihre philosophische Sehnsucht aber stammte aus keinem dieser Motive. In ihren äußersten Wirkungen können Hunger, Liebe und Eitelkeit in den Tod treiben; doch auch der Erkenntnisdrang scheut den Tod nicht, mag der Philosoph dem blutigen Todesurteil der kompakten Majorität und ihrer Führer zum Opfer fallen, oder mag er in langsamer Selbstaufopferung Geist und Körper zerstören durch die einzige Sehnsucht, an der Grenze des Wißbaren mit geschlossenen Augen weiter zu schauen.

Aber es ist ein Unterschied zwischen der Todesflucht des Werdenden, der von Hunger, Liebe oder Eitelkeit aus dem Leben getrieben wird, und der Todessehnsucht, der Todeswollust des müden Philosophen. Der Selbstmord des Werdenden, der Selbstmord aus Hunger, Liebe oder Eitelkeit hat wirklich — wie man zu sagen pflegt — einen pathologischen Charakter. Reife aber, geistige Reife ist — wie überall die Fruchtreife in der Natur — Todbereitschaft, Todessehnsucht. Die Motive des Hungers, der Liebe und der Eitelkeit verblassen im reifen Menschen vor dem letzten Motive. "Die Frucht ist reif; sie bittet welk um Trennung vom Mutterland; der Schnitter ist willkommen."

Die Todbereitschaft, die aus dem philosophischen Charakter als reife Frucht hervorgehen kann wie pathologisch der Selbstmord des Jünglings aus den drei großen allgemein menschlichen Motiven, die müde Todbereitschaft gibt vielleicht einen Wink für die psychologische Auffassung der philosophischen Stimmung; doch kann ich den Verdacht nicht unterdrücken, daß das Folgende am Gängelbande der Sprache nur spielend neben dem Abgrunde der Wahrheit vorüberführt. Schon der uralte chinesische Philosoph Licius hat gesagt: "Das Leben versteht den Tod nicht, und der Tod versteht nicht das Leben; die Ankunft versteht nicht den Abschied, und der Abschied nicht die Ankunft."

Es gibt im Handeln des Menschen neben den drei gemeinen Trieben noch das Motiv der Müdigkeit, das vielleicht nicht so negativ ist, wie es scheint. Gehört doch ein großer Teil des menschlichen Lebens dem Schlafe, zu dem das sehnsuchtsvolle Ruhebedürfnis hinüberführt. Und am Abend des Lebens meldet sich die letzte Müdigkeit, die Todessehnsucht, von der der Knabe, der Jüngling, der Mann nur in besonders leidenschaftlichen Stimmungen etwas wußte. Auch das Denken kennt die tägliche Erschlaffung, auch das Denken kennt am letzten Ende seines lebenslangen Erkenntnisdranges die Müdigkeit, die Todessehnsucht. Wie ein Spießrutenlaufen ist das Denken des Philosophen. Nur daß die Gasse der mit Geißeln bewehrten Warums endlos ist. Es gibt kein letztes Warum, hinter welchem nicht ein neues Warum seine Geißel schwänge. Der zum philosophischen Denken Verurteilte stürzt in die Gasse hinein, die ersten Wunden stacheln nur seine Kraft auf, in Schmerz und Verzweiflung keucht er weiter bei immer neuen Warums vorüber, bis er endlich zusammenbricht und die optische Täuschung der Todessehnsucht ihm die Phantasie eingibt, der Schmerz höre auf, das letzte Warum sei erreicht. Die endlose Reihe führte früher zum Wozu und zum Wozu des Wozu in die Zukunft. So fragen wir nicht mehr. Die Kausalität fragte früher endlos nach dem Woher und dem Woher des Woher. Wir glauben jetzt, daß die Reihe dieser Frage durch die Grenzen unserer Sinnesorgane begrenzt ist. Man fragte einst nach dem Sinn jedes Wozu und jedes Woher, endlos. Wir glauben jetzt, daß unser Verstand es ist, der den Sinn in die Welt hineinträgt; wir wissen aber auch, daß dieser Verstand, diese Fähigkeit, seinen Sinn in etwas hineinzutragen, als ein Gewordener seine Sinnigkeit erst von der Welt erhalten hat. So wird unsere letzte Frage ewig hin und her geworfen zwischen Erkenntnis und Welt, und erst die Todessehnsucht, die wollüstige Müdigkeit des Verstandes spiegelt ihm die Täuschung vor, er könne einmal innehalten und das Ende seines Denkens sei wieder einmal eine Philosophie. Und weil das Denken Sprache ist, ist diese neue Philosophie aus der Todessehnsucht des Denkens ein Selbstmord der Sprache.

So ist es die Sprache allein, die für uns dichtet und denkt, die uns auf einiger Höhe die Fata Morgana der Wahrheit oder der Welterkenntnis vorspiegelt, die uns auf der steilsten Höhe losläßt und uns zuruft: Ich war dir ein falscher Führer! Befreie dich von mir!

Die Kritik der Sprache muß Befreiung von der Sprache als höchstes Ziel der Selbstbefreiung lehren. Die Sprache wird zur Selbstkritik der Philosophie. Diese selbstkritische Philosophie wird durch ihre Resignation nicht geringer als die alten selbstgerechten Philosophien. Denn von der Sprache gilt wie von jedem anderen Märtyrer der Philosophie das tapfere Wort:

Qui potest mori, non potest cogi.