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Ruhebedürfnis

Wir haben aber inzwischen bemerkt, daß der Satz: "Es gibt nur Philosophen, es gibt keine Philosophie" — besser so ausgedrückt wird: "Es gibt keine Philosophie, es gibt nur Philosophien." Das stimmt gut mit unserer Scheu vor Personifikationen zusammen. Die Persönlichkeit eines Philosophen ist ja doch nur ein Abstraktum für die Äußerungen seines Charakters, wie sie sich in der Richtung seines Denkens ausdrücken. Man hat wohl auch in ältester Zeit, als das Wort Weisheitsfreund noch nicht erfunden war, zwischen dem Wissenden und dem Weisen unterschieden. Der Alleswisser früherer Jahrhunderte, der Vielwisser von heute wird uns zum Philosophen erst durch die Tönung seines Wissens. Ein Beispiel wird das klar machen. Thaies, der Flügelmann der Geschichte der Philosophie, hat das Wasser zum Prinzip oder Urelement der Welt erhoben; es war ihm das sicherlich keine wissenschaftliche Erkenntnis, sondern ein ahnungsvoller Versuch mit dem Woher und dem Woher des Woher zur Ruhe zu kommen. Einerlei, ob er wirklich an Wasser, oder an den flüssigen Zustand, einerlei, ob er an die Flüssigkeit als ein Element oder als ein mechanisches Prinzip dachte, er war ein Philosoph, weil er sich mit seiner Vergottung des Wassers eine Sehnsucht erfüllte. Nehmen wir nun an, es würde morgen einem Chemiker die von manchen Seiten erwartete Tat gelingen, er würde unsere brutalen siebzig und mehr Elemente im Laboratorium auf den Wasserstoff als das eine Urelement zurückführen. Der Mann wäre ein Entdecker ersten Ranges; aber ein Philosoph würde er nicht heißen, weil seine gewaltige Leistung ihn selbst und uns nicht beruhigen würde, weil sofort neue chemische Fragen auftauchten und die allgemeinen Fragen der Welterkenntnis gar nicht berührt würden.

Man sieht aus diesem Beispiel, wie der Begriff des Philosophen sich von Thaies bis heute verschoben hat; das Wißbare hat eine unübersehbare Ausdehnung gewonnen; geblieben ist die Stimmung, in welcher der Philosoph an der Grenze des ihm Wißbaren inne hält, müde zurück und träumerisch vorwärts blickt. Man kann diese Entwicklung mit der Umschau in der räumlichen Welt vergleichen, die beim Individuum in der Kinderstube beginnt, bei der Mehrzahl der Menschen mit dem Heimatsdorfe endet und drüben die Welt mit Brettern verschlagen sein läßt, die beim Astronomen allerdings Sterne in die Berechnung zieht, deren unvorstellbar schnelles Licht zur Fahrt nach der Erde Jahrhunderte braucht, die aber auch beim Astronomen (wenn er es auch theoretisch leugnet) hinter jenen Sternen die Welt mit Brettern verschlägt, um zur Ruhe zu kommen. Es besteht die optische Täuschung des Zeniths. Man kann diese Entwicklung des Philosophenbegriffs auch vergleichen mit den Täuschungen eines Schülers, der zuerst auf jeder Stufe des Lesen-, Schreiben- und Rechnenlernens etwas zu wissen glaubt, der dann auf dem Gymnasium wieder hofft, reif zu werden durch Wissen, der endlich auf der Universität zu spät erfährt, daß das bisher Gelernte nicht Wissenschaft war, und daß die letzte Wissenschaft nicht Welterkenntnis ist — wenn er nämlich philosophische Anlage besitzt, den Erkenntnisdrang, der nicht froh ist, wenn er Regenwürmer findet.