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Philosophien

Daß es nur Philosophen gibt, aber keine Philosophie, das wird außerhalb Deutschlands dadurch verschleiert, daß namentlich in Frankreich und England das Wort Philosophie mehr und mehr den Sinn einer allgemeinen Prinzipien lehre erhalten hat. Nach deutschem Sprachgebrauche ist es unbequem, Darwin zu den Philosophen zu rechnen. In Deutschland haben Fichte, Schelling und Hegel, berauscht von der großen Tat Kants, aus dem Verstande heraus lehrbare Philosophien zu ergrübeln gesucht. Die Deutschen haben nicht bemerkt, daß die Mehrzahl "Philosophien" die Sache schon verdächtig machen muß; die aufeinander folgenden Systeme der berühmten Philosophen gehören erst recht nicht in die Philosophie, sondern in die Geschichtswissenschaft. Wer sich mit dieser Geschichte, sei es noch so eingehend, beschäftigt, braucht nicht einmal ein starkes metaphysisches Bedürfnis zu besitzen, und er ist höchst wahrscheinlich kein philosophischer Kopf. Kant und Spinoza waren nicht stark in der Geschichte der Philosophie. Es gibt Philosophen und es gibt ihre Philosophien; aber es gibt keine Philosophie. Sicherlich ist die Beschäftigung mit den vorausgegangenen Philosophien für den philosophischen Kopf eine vortreffliche Übung; aber nur weil sie ihn die Geschichte der Begriffe kennen lehrt; eine Entwicklungsgeschichte, die übrigens endlich geschrieben werden sollte, weil sie leichter geschrieben werden könnte, als etwa die Entwicklungsgeschichte unserer Sinnesorgane. Eislers "Wörterbuch der philosophischen Begriffe" ist eine erste Vorarbeit für so eine Entwicklungsgeschichte. Ein Thesaurus muß der Benützung des Schatzes vorausgehen.

Der heillose Irrtum Hegels, der sein eigenes System als den Schlußpunkt der Geschichte der Philosophie betrachtete, muß jedem Philosophen passieren, wenn diese optische Täuschung auch nicht immer so hochmütig bewußt wird. Die Geschlechter der Menschen sind wie Wanderer, die am Abhänge eines hohen Berges hin auf streben. Jeder, der den Gipfel des Rigi erreicht hat, meint von den verschiedenen Staffeln des Berges verschiedene und immer weitere Aussichten geschaut zu haben, auf dem Gipfel die Aussicht. Die Menschheit jedoch türmt sich selbst höher hinauf; für die Entwicklung ist auch die Aussicht vom jeweiligen Gipfel nur eine Aussicht. Die Tendenz allein, die Richtung nach der Höhe macht den Philosophen; und von jedem Punkte der Erde könnte man nach der Höhe streben. Die Tendenz allein, die Richtung allein, ist uns bei der Orientierung gegeben. Die Linie, welche vom Beobachter senkrecht in die Höhe führt, leitet zum Zenith, wie man sagt. Aber es gibt nirgends im Welträume einen solchen Punkt. Nur das Ruhebedürfnis unseres Geistes, der nicht in aller Ewigkeit und bis zur Bewußtlosigkeit dem unendlich Fernen verzweifelt nachjagen mag, läßt uns schließlich müde von einem Zenith sprechen. Wir werden sehen, daß es ebensowenig die Philosophie gibt wie den Zenith, daß die Philosophen, deren es gibt, sich von unphilosophischen Köpfen nur durch eine Richtung ihres Geistes unterscheiden, und daß die sie beherrschende Leidenschaft nichts ist als ein leidenschaftliches Ruhebedürfnis.